Skizzen zum Anarcho-Konservativismus. Nihilismus.


  1. Überarbeitete und aktualisierte Fassung aus dem Jahre 2013


  2. Nachträge

    Hierbei handelt es sich um Beiträge, die im Zusammenhang mit der Entwicklung der Gedanken, die ich in den „Skizzen“ geäußert habe, entstanden sind. Dabei sind viele zeitlich vor der Veröffentlichung des Heftchens erschienen, einige (nämlich „Keine Werte“, „Die dressierte Taube“ und „Ein Schlaglicht auf das Übermenschkonzept Nietzsches“) sind auch dem Heftchen selbst beigelegt.

    Verzeichnis der Beiträge (chronologisch geordnet):
    1. Die dressierte Taube/23.05.2010
    2. Das Kainsmal/18.12.2010
    3. Takt und Spannung. Warum ich nicht regieren sollte./02.11.2010
    4. Keine Werte/07.06.2011
    5. Ein Schlaglicht auf das Übermenschkonzept Nietzsches/13.07.2011
    6. "Was bitte bist du?" Eine Selbstreflexion./04.08.2011
    7. Frömmelei/11.10.2011
    8. Warum ich so ein „guter Mensch“ bin/30.11.2011
    9. Eigenartig…/07.09.2012
    10. Über die Grenzen Europas und was es demnach ist (Kurzessay)/06.02.2013
    11. Skizzenfragment zum Konzept eines anarchistischen Konservativismus (eine überarbeitete und abgespeckte Version des obigen Textes)/entstanden im Mai 2013
    12. Wär's wurst, wär's mir lieber/entstanden Mitte Mai 2014
    13. ζωή; was uns mit allem Lebendigen verbindet/zentrales erstes Kapitel aus dem den Predigtdienst erläuternden Essay; entstanden im Sommer 2015

    Frömmelei/11.10.2011

    Wie schon einmal vor gut zehn Jahren, habe ich in den letzten Tagen Erich Fromms populäres Buch „Die Kunst des Liebens“ gelesen. Erworben hab ich selbiges, nachdem ich mein erstes Exemplar schon vor Jahren irgendwo verloren und den Inhalt größtenteils vergessen habe, auf dem letzten Viktringer Flohmarkt (übrigens ein heißer Tipp für Leute, die gute, billige Bücher suchen).

    Wie bei den meisten sozialwissenschaftlichen Erklärungsmodellen, kam mir auch hier mehrmals fast die Galle hoch. Warum, möchte ich jetzt kurz auseinandersetzen.

    Fromms zentrale Thesen zur „Liebe“ sind, so wie ich ihn verstanden habe, folgende:
    Nach diesem kurzen Hingucker in das Denken Erich Fromms, kann ich nur zum Schluss kommen, dass er ein Verächter des Individuums ist.
    Warum?

    Für mich ist das Konzept der grundsätzlichen Welt-, Seins- und Lebensbejahung, der Entgrenzung, also das, was Fromm „Liebe“ nennt, ein antiindividualistisches, freiheitsfeindliches und der Tendenz nach totalitäres Konzept:

    Es spricht Bände, wenn Fromm uns gerade die goldene Regel wie sie allgemein verstanden wird, nämlich als unmittelbar begreifbar, als unideologisch im oben erwähnten Sinne (weil ich es nicht mag, wenn ich Weh 'krieg, magst du es wahrscheinlich auch nicht) als narzisstisch madig zu machen versucht.

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    Keine Werte/07.06.2011


    Ideologie ist das Schmieröl der alles und jeden versklavenden Maschinerie, die wir Gesellschaft nennen.
    Der Lauf der Welt wird durch die Ideologie gerechtfertigt.
    Jede Moral, jeder Ethos ist eine ideologische Unterfütterung der herrschenden Zustände.

    Auch die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft, als späte organisatorische Spielart der faustischen Kultur/Zivilisation, ist keineswegs individualistisch oder freiheitlich, wie es ihr ideologisches Selbstbild unterstellt, sondern integrativ.
    Der Akzent des faustischen Ethos liegt nicht so sehr auf der Freiheit des Individuums (natürlich nur des schaffenden Individuums), als auf der uneingeschränkt positiven Beurteilung der Arbeit.
    Arbeit, auch ohne „Zweck“, nicht Freiheit, ist der letzte Grund westlicher Werte. „Faustisch“ ist dieser Ethos dahingehend, dass einerseits die Steigerung der Produktivität keine Obergrenze kennt (die industrielle Gesellschaft konnte nur innerhalb der westlichen Kultur/Zivilisation entstehen), andererseits jedoch eine Beschränkung der Tätigkeit der Menschen als unmoralisch gilt, die spätzivilisatorischen Massen also in Arbeit gehalten werden müssen, nicht aus Gründen der Notwendigkeit, sondern der Moral.
    Ersteres führt zum Zwang des exponentiellen Wachstums, welches unsere (heute weltumspannende) Kultur/Zivilisation bis an ihr Ende prägen wird.
    Zweiteres wird im Laufe der historischen, durch den Takt determinierten Entwicklung der kommenden Jahrzehnte zum Gipfel der individuellen Unfreiheit führen. Dem von Oswald Spengler so genannten „ethischen Sozialismus“.
    Die Sorge um den Mitmenschen, ob er will oder nicht.
    Die Apotheose der Arbeit für sich, auch der sinnlosen, sogar der schädlichen.
    Die Verpflichtung zur Arbeit, die Verpflichtung zur Sorge um den Nächsten, die Verpflichtung der Sorge des Nächsten um einen selbst ausgeliefert zu sein. Das alles ist in den moralischen Vorstellungen unserer Zeit bereits angelegt.
    Ein totalitäres System. Ein ethischer Sozialismus. Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.

    Es ist ein Irrtum, von der Möglichkeit eines moralischen Korrektivs zu gesellschaftlichen Missständen auszugehen. Moralische Empörung ist niemals systemfeindlich. Was taktvolles Programm einer Epoche ist, das ist auch moralische Richtschur.
    Wenn Empörung ein Akt des Widerstandes, der Auflehnung ist, dann ist der Begriff „moralische Empörung“ ein historischer Widersinn. So sollt ihr euch nicht empören.

    Die Geschichte ist ein Strom, wer versucht, gegen ihn anzuschwimmen, wird mitgerissen. Die einzige Chance, ihm zu entgehen, ist aus dem Flussbett zu klettern.

    In einer Welt, die durch die historische Determiniertheit um jede Hoffnung auf die Verwirklichung einer positiven Utopie gebracht ist, kann der bewusste, autonome, kritische Mensch, das Individuum, der „Spannungsmensch“ nichts „Weltbewegendes“ bewirken.
    Wenn wir uns selbst entsprechen wollen, können wir uns nur persönliche Freiräume schaffen, mehr nicht. Dazu bedarf es aber erst der Abkehr von der ideologischen Überhöhung des Bestehenden: der Moral.
    Was ist schon die moralische Konnotation von Begriffen.


    Willkür
    Die einzige Form von Macht, die dem Spannungsmenschen gerecht wird, ist die über sich selbst. Macht über Andere ist keine Einbahnstraße. Jede politische Macht erfordert, sich selbst in die herrschenden Verhältnisse einzufügen, selbst zum Werkzeug des Stromes der Geschichte zu werden. In allen Entscheidungen frei zu sein, gelingt nur dem „politisch Abstinenten“. Willkür ist Macht über sich selbst.

    Faulheit
    Die Vergöttlichung der Arbeit macht jeden „Arbeitsscheuen“ zum Häretiker. Doch die Form der Arbeit, so wie sie heute vorherrscht, ist dem Menschen nicht angemessen. Lohnarbeit bleibt den wenigsten erspart, wir alle müssen leben. Doch der Unterschied besteht in der Ideologisierung. Lohnarbeit ist Notwendigkeit, nicht erstrebenswertes Ideal. Denn: Nicht wovon wir leben ist für uns als autonome Individuen bedeutend, sondern was wir machen. Ich weigere mich, diesen Unterschied weiter auszuführen.

    Nihilismus
    Gebrauchen wir das bedenkliche Wort Freiheit, so steht es uns nicht mehr frei, dieses oder jenes zu verwirklichen, sondern das Notwendige oder nichts.
    Dieser Satz aus dem Vorwort des „Untergang des Abendlandes“ von Oswald Spengler ist die Quintessenz der Vorstellung von einer determinierten Geschichte. Der Takt ist total. Alles, was ich im positiven Sinne in der Welt des Taktes tue, überall, wo ich politisch oder gesellschaftlich, „historisch“ handle; ich fördere und beschleunige damit das vorherbestimmte Programm der Geschichte.
    Doch ein Spannungsmensch will kein Sklave des Notwendigen sein. So kann er im Bereich des Politischen und Gesellschaftlichen nicht anders, als nichts zu tun. Doch damit nicht genug. Er muss, auf Grund des Takt-Charakters alles politischen oder historischen Handelns, damit beginnen auch „nichts“ zu wollen – das Nichts zu wollen.

    Töten
    Alles um uns und in uns, was Takt ist, will uns in den Strom der Geschichte integrieren. Wenn der Spannungsmensch sich selbst gerecht werden will, muss er dagegen ankämpfen.
    Sich selbst aus den mitreißenden Entpersonalisierungen des Taktes auszuschließen, darauf zu verzichten, sein Ich im Wir auslöschen zu wollen, sich selbst aus dem Feuer zu nehmen und zu erkalten, das ist immer auch eine Form der Askese.
    Askese jedoch ist ein Akt des Tötens. Den Takt in sich immer wieder abzutöten, das ist die Voraussetzung für eine Spannungsexistenz, die sich selbst gerecht wird.

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    Die dressierte Taube/23.05.2010

    Der Papst verstirbt und kommt in den Himmel. Aufgrund seines innigen Verhältnisses zur göttlichen Wahrheit, hofft er auf ein üppiges Empfangskomitee, doch an der Himmeltür empfängt ihn nur ein proletoider alter Fischer (natürlich Petrus), der ihn barsch nach Name und Herkunft fragt.
    Etwas verblüfft gibt er sich als Papst zu erkennen, doch Petrus hat ihn nicht in seiner himmlischen EDV. Man müsse übergeordnete Stellen konsultieren. Während der Papst also wartet, zieht der hl. Petrus zu Gott Vater, um ihn zu fragen, ob denn er, der erste Ewige, einem sogenannten „Papst“ eine VIP-Loge im Himmel versprochen hätte, doch der Vater kennt ihn nicht. Petrus versucht es bei Christus, mit dem er schon länger einen amikalen Umgang pflegt. Auch Christus weiß nichts von einem „Papst“, für einen Nachfolger Petri sei er ohnehin zu snobistisch gekleidet und so weiter.
    Schließlich kontaktiert der Fels von einem Mann noch den Heiligen Geist, welcher auf der Stelle die Fassung verliert und laut wird. „Du kennst diesen Menschen also?“ „Na klar, das ist doch der Schwätzer, der jedem die Geschichte von mir und der Maria auf die Nase bindet!“

    Heute ist Pfingsten. Wenn man der Apostelgeschichte und der kirchlichen Tradition glaubt, fand fünfzigTage nach den Ereignissen um Ostern die demoralisierte und verängstigte Anhängerschaft Jesu, nach wochenlanger Kontemplation und Abgeschiedenheit, wieder zu innerer Stärke.
    Nicht umsonst ist der Heilige Geist heute in der Vorstellung des durchschnittlichen Kirchenbesuchers zur dressierten Taube degeneriert, ist er doch der Teil der christlichen Gottesvorstellung, die sich am schwersten in ein organisatorisches und konstruktives Korsett zwängen lässt. Er lässt Bauern und Kinder die Schrift auslegen, macht Sklaven zu Propheten und verdreht dem Pöbel die Köpfe und lässt ihn "in Zungen reden“, das passt nicht in die Welt der christkatholischen Mittelschichtsexistenz. Wohl auch nicht in die Vorstellungswelt der allerorts wachsenden Pfingstbewegungen. Beschränkt sich das „Gotteserlebnis“ doch auch dort auf den Bereich des Kultes, fehlt es an der Verankerung der Charismen (Gaben des Heiligen Geistes, welche, neben der „Freiheit“, da sind: Weisheit, Erkenntnis, Glaubenskraft, Prophetie, Krankenheilungen, Wunderkräfte, Geisterunterscheidung, Zungenrede und Auslegung der Zungenrede) im Alltäglichen. Brav und integer soll man nämlich sein, auch und grad' als Pfingstler, draußen „in der Welt“. „Die Welt“, das ist überhaupt ein Begriff, der wohl all zu gerne Überlesen wird, in der Heiligen Schrift. Die Wirkmächtigkeiten in der Welt, die Macht der Großen, der Glanz des Goldes, das Blenden mit beidem, ja, die Herrschaft des Menschen über den Menschen, und nicht irgend eine Krampusgestalt, das sind die eigentlichen Gegensätze zu Gott, daran glaube ich persönlich.
    Wo könnte der Geist heute sein?
    Die Apostelgeschichte beschreibt das „Erweckungserlebnis“ der Jünger auf recht bildhafte Weise. „Feuerzungen“ kommen vom Himmel und machen die hundert-und-etwas Jünger des Christen in fremden Sprachen reden. In Jerusalem aber wohnten […] Männer aus allen Völkern unter dem Himmel. Und jeder von ihnen konnte in seiner eigenen Sprache lauschen. Was der Geist berührt, ist wohl keinem Menschen fremd.
    Was, neben dem religiösen Eifer, trieb alle Erneuerer und Schwärmer ,während der langen Nacht der Kirchengeschichte, zu ihren Taten? Wohl die Vorstellung, dass die Ordnung (hier wieder) „der Welt“, in der sie damals und wir heute leben, schwer von „höherem Willen“ durchdrungen sein kann, wie es damals wie heute die Mächtigen und ihre geistigen Komplizen lautstark verkünden.
    Ein „Weltverbesserer“, besser wohl einer der „Weltüberwinder“ sein zu wollen, ist oft gefährlich, zwangsläufig aber nicht sozial opportun. Die einen sagten zueinander: Was hat das zu bedeuten? Andere aber spotteten: Sie sind vom süßen Wein betrunken.

    Das ist jetzt glaub ich schon der dritte religionsbezogene Blogeintrag dieses Jahr. Ich komm'; ja ursprünglich aus diesem Eck. Man möge es mir verzeihen. Außerdem: Bis Weihnachten ist ja noch mehr als ein halbes Jahr Zeit.

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    "Was bitte bist du?" Eine Selbstreflexion./04.08.2011

    Wer sich aufgehoben weiß in den alltäglichen Vorgängen, die die Welt zu dem machen, was sie ist, wird ein ausgeglichenes, glückliches, ruhiges Leben führen.
    In dem kleinen Büchlein, das ich vor einem guten Monat zur Veröffentlichung gebracht habe, versuche ich mit dem Umstand fertig zu werden, dass mir dieses Urvertrauen in die Welt fehlt.
    Ich stelle hierin die Behauptung auf, dass:

    Erstens: dieses mangelnde Urvertrauen zwar nicht die Regel, aber auch keine Anomalie darstellt. Ich glaube also, dass viele meiner Zeitgenossen, vielleicht sogar die wacheren und offeneren unter ihnen, ein ähnliches „nicht Dazugehören“ erfühlen.
    Zweites: aus dieser Erfahrung in weiterer Folge ein Gegensatz von zwei völlig unterschiedlichen Arten des „Welterlebens“, also der Lebensrealität herausgearbeitet werden kann. Diese kann man ausdrücken in den Gegensatzpaaren: Lebendiges-Ewiges; Weltliches-Göttliches; Kollektives-Individuelles; Tun-Denken; Geborgenheit-Freiheit. Hierbei stütze ich mich auf die Betrachtungen Oswald Spenglers, er nennt diese zwei Realitäten „Takt und Spannung“.
    Drittens: diese zwei Anteile nicht „in Reinform“ in den einzelnen Menschen existieren, sondern in einem individuell unterschiedlichen Verhältnis.
    Viertens: alles Menschsein der Widerspruch dieser Gegensätze ist.
    Fünftens: ich, anders als ein Mensch, der sich, aufgrund der Gewichtung des Gegensatzes in ihm, in der Welt aufgehoben weiß, mich bewusst dazu entschließen musste, mich von dieser Welt nicht beherrschen zu lassen.

    Jemand mit Urvertrauen, mit dem „Gespür“ für die Vorgänge der Welt, mit einem Sinn für alle Nuancen des Lebens, mit einer Seele, die ihn zum Tun drängt, nicht zum Denken, ist in dieser Welt zu Hause. Er ist Lebendiges, ein Held, ein Kenner und Feinschmecker, ein hinreißender Teufelskerl oder ein Vollweib. Für ihn ist die Welt ein Zuhause.
     
    Ich, als jemand, der nicht mit diesem Gespür für die Welt ausgestattet ist; ich, als jemand, der darüber hinaus das Schwimmen im großen Strom des Lebens als Unfreiheit empfinden würde, bin der allgegenwärtigen Übermacht dieser Welt, den Strömen des Lebens nicht nur ausgeliefert (wie wir alle), ich empfinde dieses Ausgeliefertsein als Bürde.
    Ich stehe, als jemand mit einem Übergewicht an „Ewigem“, „Göttlichem“, „Denken“, einem Mehr an „Individualität“ und an „Freiheit“ in meiner Seele, einer feindlichen Welt gegenüber. Ich stehe mit dem Rücken zur Wand und muss kämpfen.

    In letzter Zeit bemerke ich, wenn ich in den Spiegel sehe oder, noch deutlicher, wenn ich ein Foto von mir betrachte, einen verbissenen und gemeinen Zug in meinem Gesicht. Den hatte ich früher nicht. Das Leben in einer feindlichen Welt fordert seinen Tribut. Ich bin ständig unter Strom, unter Spannung. Nicht von Ungefähr nennt wohl auch Spengler das in mir vorherrschende Welterleben die Sphäre der „Spannung“. All mein Schaffen ist durchdacht, anorganisch. All mein Tun fällt schwer. Mein Dasein ist ein ständiger Kampf um ein Sich-selbst-gerecht-werden.
    Ich bin nicht glücklich.

    Doch was ist „Glück“?
    Wenn eine glückliche Existenz eine in sich ruhende, unaufgeregte und zufriedene Existenz ist, die mit der Welt und den Umständen ihren Frieden gemacht hat, so wie wohl die meisten meiner geneigten Leser es annäherungsweise definieren würden (auch ich), wie könnte dann die Lebensrealität eines glücklichen Menschen aussehen?
    Meine Freunde, geht doch einmal in eine Einrichtung für demenzkranke alte Menschen, in eine Einrichtung für Palliativmedizin, oder einfach in ein Pflegeheim. Die Siechen, die wieder zu Kindern werden, verlieren die Fähigkeit zur willkürlichen Beherrschung ihrer Körperfunktionen, urinieren, scheißen und – lächeln dabei. Der Mensch wird, bevor er physisch aufhört zu existieren, wieder zur reinen Natur. Der Takt obsiegt.
    Das angekotete Gemüse in unseren Altenheimen ist die reinste Verkörperung der allgemeinen Vorstellung von einem glücklichen Leben. Von mir aus strebt danach. Für mich ist Glück nicht alles.

    Einen Anderen veredelt das Leben vielleicht, weil in ihm das Prinzip des „Weltlichen“, des „Geborgenseinwollens“, des „Lebendigen“ überwiegt, im pulsierenden Leben ist aber auch Untergang – und tendenziell meiner. Auch wenn es für die „Kinder dieser Welt“ sündhaft klingt: meine Existenz gegen das Prinzip des „Lebens“.
    Warum?
    Weil ich nicht untergehen will.

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    Takt und Spannung. Warum ich nicht regieren sollte./02.11.2010

    Hat sich der eine oder andere von euch schon Gedanken darüber gemacht, warum weltanschauliche Traumtänzer immer scheitern?
    Vor gut eineinhalb Jahren wurde ich zum ersten Mal mit der Aufgabe betraut, eine unabhängige Studierendenfraktion als Spitzenkandidat zu vertreten. Ich hatte jede Menge neue Ideen. Allen voran; ich wollte Die Brut aus dem (aus meiner damaligen Sicht) dumpfen Aktionismus der letzten Wahlen 2007 herausführen; ihr ein fundiertes Programm und eine weltanschauliche Richtung geben. Ich bin gescheitert.
    Ich bin gescheitert, weil ich scheitern musste. Menschen mit dem Anspruch, erkennen zu wollen, wie die Dinge wirklich sind, anstatt sie so anzunehmen, wie sie scheinen, machen immer eine schlechte Figur in der politischen Arena.
    Politik (das ist immer das Handwerk der Macht; also: ihr Erwerb und ihr Erhalt) scheint mir heute eine höchst intuitive Sache zu sein. Sie hängt in jedem Fall nicht von der Qualität der Parteiprogramme ab.
    Etwas Grundsätzliches ändern zu wollen, ist nicht Sache des Politikers. Politik ist das Weltbejahende, ich bin ein Teil des Weltverneinenden.

    Oswald Spengler war ein Geschichtsphilosoph der Zwischenkriegszeit. In seinem Hauptwerk „Der Untergang des Abendlandes; Versuch einer Morphologie der Weltgeschichte“ vertritt er, neben der Problematisierung der Idee eines linearen, sich entwickelnden und verbessernden Geschichtsverlaufs (Altertum-Mittelalter-Neuzeit), der Idee eines „Endes der Geschichte“ und der Ablehnung des eurozentistischen Blickes auf die Welt, die Ansicht, dass es zwei grundsätzlich verschiedene Formen des persönlichen Welterlebens gibt.

    Einerseits ist dies die Sphäre des „Taktes“. Takt bedeutet hier ein sich-verbunden-Fühlen mit den Kräften des Kosmos, dem Lauf der Welt. Pflanzenhaftigkeit. Der Realpolitiker und der Demagoge, beide sind sie „Taktmenschen“. Der Eine weiß um das Machbare und will nichts darüber hinaus, der Andere fühlt die herrschende Ideologie (noch so ein Wort; es bedeutet hier: dasjenige, was unhinterfragt als allgemein gültige Wertnorm, oft unbewusst, das Handeln aller Menschen innerhalb einer Gesellschaft mitprägt) und richtet sich danach aus (z.B. mit dem demagogische Terminus der „Fleißigen und Anständigen“ innerhalb des Herrschaftsbereiches des bürgerlichen Arbeitsethos, bei uns).

    Andererseits die Sphäre der „Spannung. Spannung bedeutet hier das Welterleben des „freien“ (also autonomen und, zumindest dem inneren Anspruch nach, ohne Zusammenhang mit den kosmischen Strömen des Taktes lebenden und erlebenden) Individuums, das den Anspruch hat, hinter den „Tatsachen“, also der Welt, wie sie scheint, die „Wahrheiten“ der Welt, wie sie ist, zu erkennen. Tierhaftigkeit. Alle Mystiker, Philosophen, (Geistes-?)Wissenschafter, aber auch alle Weltanschauungstheoretiker sind „Spannungsmenschen“. Sie verstehen sich weder auf das Machbare, noch auf die herrschende Ideologie, sie wollen verändern.

    Wozu ich mich zähle, wird wohl jedem klar sein.

    Ganz wichtig ist aber die nächste Schlussfolgerung Spenglers:
    Auf Grund ihrer Blindheit für den Lauf der Welt, muss jedes Engagement der „Spannungsmenschen“ in der politischen Welt, der Welt des „Taktes“ aus ihrer Sicht scheitern.
    Geschichte, damit auch politische Wirklichkeit, ist für Spengler determiniert (also unabwendbar und durch Gesetzmäßigkeiten vorherbestimmt). Der politisierende „Spannungsmensch“ würde sie nur dialektisch beschleunigen. Unsere Freiheit ist es, mit den Wölfen zu heulen (gewollt oder ungewollt), oder eben darauf zu verzichten, mit den Wölfen zu heulen zu wollen. So wird jede positiv formulierte politische Forderung zur Farce. Mein Los ist es, auf die Nicht-Gesellschaft, die Nicht-Politik und den Nicht-Staat zu hoffen. Das soll meine „Politik“ sein.

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    Warum ich so ein „guter Mensch“ bin/30.11.2011

    Wie bitter kann doch die Erfahrung sein, sich edel, selbstlos, ritterlich zu verhalten, kein Opportunist und „Radfahrer“ zu sein, eher schon eine Art moderner „Robin Hood“, und es dennoch nicht von den Menschen und der Welt gedankt zu bekommen, sondern, im Gegenteil, dafür verachtet und gehasst zu werden.
    Das kann einem schon die Laune gründlich verderben. Warum nur bekommt man nicht vom Leben, was man, nach seinem eigenen Dafürhalten, „verdient“?
    Ist das nicht eine unserer Grundeinstellungen gegenüber der Welt; diese eigenartige Vorstellung von einer Art „moralischem Konto“, von so einem Karmading, das in unserem Leben so etwas wie eine ausgleichende Gerechtigkeit schafft?

    Sowas wie ein „moralisches Konto“ gibt es aber nicht auf dieser Welt. Warum?
    Ganz einfach: Das Leben und die Welt sind Dinge, die sich einen Scheiß um das persönliche Verhalten des Individuums kümmern, sondern ausschließlich daran „interessiert“ sind, ihr determiniertes Programm zu erfüllen.
    Alle Dinge dieser Welt, und die Geschichte und die Gesellschaft gehören da eindeuig dazu, verfolgen keinen Plan hin zu einem „Höher und Besser“, sondern sind so angelegt, die ewig selben Formen von Verherrlichung des Starken, von Vernichtung des Schwachen ständig zu reproduzieren. Geschichte und Gesellschaft sind hier nichts anderes als die, einen Deut anorganischere, Fortführung der Biologie. Fressen und Gefressenwerden – in voller Unschuld.
    Moralische Kategorien, so sie nicht bloße Rechtfertigungen für die Determinismen der Welt, also Ideologien sind, sondern (nicht nur in der Theorie der Ideologisierung des Bestehenden, sondern in der Lebenspraxis, sowohl des Starken, wie auch des Schwachen) den Anspruch erheben, immer und für jeden gültig zu sein (also für die Starken und Schwachen gleichermaßen), sind dem Leben, dem „Takt“ entgegengesetzt. Eine Haltung, die dennoch an ihnen festhält, wird vom Leben bestraft.
    Deswegen die, eingangs erwähnte, bittere Erfahrung der „guten Menschen“, zu denen auch ich mich zähle.

    Mein moralisches Verhalten ist den Determinismen des Lebens entgegengesetzt. Es ist eine ideologisch gefärbte Fehleinschätzung, zu erwarten, dafür vom Leben, der Gesellschaft oder den einzelnen Menschen in irgend einer Form belohnt zu werden.
    Ideologisch im oben erwähnten Sinne deswegen, weil diese Fehleinschätzung das Vorurteil befördert, das in der bösen Binsenweisheit „jeder bekommt, was er verdient“ zum Ausdruck kommt; einer der Spielarten der ideologischen Rechtfertigung der Verherrlichung des Starken, der Vernichtung des Schwachen durch das Leben.
    Mein moralisches Verhalten ist also nicht durch irgend ein Karmading oder einen höheren Plan gerechtfertigt, es ist der Ausdruck des Bedürfnisses des in mir dominanten „Spannungsmenschen“, die Welt nicht hinzunehmen, wie sie ist, sondern hinter den Formen des Lebens nach ewigen Wahrheiten zu suchen, die eben immer und für jeden gelten.

    Die Nachteile, die mir aus meinem moralsichen Verhalten erwachsen, kann nur meine innerste Überzeugung, das Richtige zu tun, auch gegen alle Welt, also meine Hybris, die in meiner von mir angenommenen Fähigkeit, die Welt von meinem beschränkten Standpunkt aus universal einordnen zu können, also in meinem Narzissmus, gründet, aufwiegen.
    Wegen diesen beiden, ohne die ein nach allgemeingültigen Wahrheiten strebender Mensch gar nicht sein könnte, kann ich es mir erlauben, ein „guter Mensch“ zu sein.

    Also: Mut, in seiner Moralität unglücklich zu sein, weil sie, und damit man selbst, denn sie erwächst aus dem Ich, für uns wichtiger ist, als die Welt und das uns umgebende Leben, also auch unser irdisches Glück.
    Das den „guten Menschen“ zum Trost.

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    Eigenartig…/07.09.2012

    Ich wurde heute Nacht Zeuge einer Szene, die sich so wohl häufig ereignet. In einem Hausdruchgang am Stauderplatz versuchte ein aufgebrachter älterer Herr einen Aufkleber von einer Hauswand zu entfernen, besser: ihn buchstäblich mit seinen Fingerbägeln abzukratzen. Der Gesamteindruck, den er mit samt seiner ganzen Emotionalität auf mich machte, war der eines alt gewordenen nachgeborenen Nazis, der voller Empörung einen ihn als rotes Tuch erscheinenden AntiFa-Aufkleber (der Hausdurchgang wird, wohl auf Grund dessen, dass er schwer einsehbar, jedoch gut frequentiert ist, bevorzugt von dieser Gruppe zu Propagandazwecken genutzt) zerstört.
    Irgendwie war mir das zu wider. Mich regte seine Aufregung auf, seine moralinschwangere mir-san-mir Stammtischüberheblichkeit. Ich musste wirklich gegen den Impuls ankämpfen, ihn zur Rede zu stellen und in eine Grundsatzdiskussion zu verwicklen und ich wollte, nachdem er den Aufkleber so halb und halb abgerissen hatte, mir das Machwerk der AntiFa ansehen, das einen verdammten alten Nazi so auf die Palme bringen konnte.
    Was stand da d'rauf?
    Als ich nun den von ihm verunstalteten Klebezettel genau untersuchte, stellte ich fest, dass er von Pro Life war. Der vermeintliche Altnazi, wohl ein Anrainer, sagte in einiger Entfernung von mir zu seiner Begleitung, die anscheinend nur Englisch verstand, mit hiesigem Akzent: Fucking catholic propaganda! Erstaunlicherweise war mir jetzt irgendwie leichter.

    Zwei Dinge die mir eigentlich schon lange klar sind wurde mir durch diese Episode wieder einmal vor Augen geführt:
    Erstens wurde mir der Unterschied von „Takt und Spannung“, von Pflanze und Gott, von Lebendigem und Ewigem in seiner praktischen Ausformung ein weiteres Mal ins Bewusstsein gerufen: Die aktivistische Linke gehört in meinem persönlichen Umfeld zu denjenigen Kräften, an deren Integrität man nicht rührt. Den Faschismus in all seinen Formen kann man nur ablehnen. Umgekehrt ist die katholische Kirche, wie es in Kärtnen übrigens bedauerlicherweise in allen Gruppen und Lagern üblich ist, in meinem weiteren Umfeld ständig Zielscheibe des Spottes. Ich für meinen Teil bilde mir ein, qua meiner Menschlichkeit die potenzielle Fähigkeit zu haben, mich Kraft meines Geistes von den allgemeinen Vorstellungen zu emanzipieren. – Ein gewagter Anspruch. Zumal Menschsein im besten Fall eine dünne, verletzliche Haut über der Pflanzenhaftigkeit ist.
    Mir ist der volkstümliche Antiklerikalismus auf Grund seiner Plattheit, die ihren Ursprung in seiner allgemeinen Verbreitung und damit weitestgehenden Unwidersprochenheit hat, ein Gräuel.
    Die Geschichte des Zwanzigsten Jahrhunderts vor Augen, scheue ich den Rousseau'schen Optimismus, alle positiven Utopien und letztendlich alle Gesinnung, die das soziale-, aber auch das demokratische-, also das Mehrheitsprinzip, über das Recht des Einzelnen stellt. Gerade aus dieser Haltung heraus, die mich auch zum Antifaschisten macht, lehne ich die auf Schaffung eines gesellschaftlichen Konsenses und ganz allgemein auf positive gesellschaftliche und politische Ziele ausgerichtete aktivistische Linke ab. Den Schwerpunkt der AntiFa auf eine besonders brutale Form der Sozialdisziplinierung, die einen unhinterfragbaren gesellschaftlichen Konsens bereits voraussetzt, auf die Denunziation nämlich, kann ich aus obigen Gründen nur ablehnen.
    Doch das sind nur Argumente, das ist nur Verstand, nur Freiheit der Entscheidung.
    Ich bin, obwohl ich bewusst versuche mich ständig davon frei zu halten, aufs stärkste durch die gängigen Urteile meiner Zeit in jeder Hinsicht geprägt.
    Denn ich habe eben nicht bewusst abgewogen, als mich der Hass auf den Zerstörer antifaschistischer Propaganda packte. Meine Wut wurde eben nicht durch meine grunsätzliche Nichtablehnung der katholischen Kirche neu angefacht, als ich statt ein „Ulrichsberg bombardieren“ einen Spruch von Pro Life auf dem Fetzen Papier vor mir sah. Das Ganze war ideologisch. Das bedeutet: nicht meine individuelle rationale Entscheidung lag dem zugrunde, sondern, dass in der Landschaft und Zeit in der ich lebe gewisse Vorstellungen unter der Oberfläche vorherrschen, die das Handeln aller Menschen auf einer elementareren Ebene als der rationalen bestimmen. Dabei kommt es nicht auf den Inhalt dieser Vorstellungen an, der durch die Geschichte determiniert ist. Dem emotionalen Befürworter der Maßnahmen der Hitlerdiktatur ging es wohl nicht anders als mir heute. Die Unfreihiet liegt in der Natur des Menschen und es liegt an ihm, so er ein Bedürfnis danach spürt, ständig zu versuchen, sich von seiner ihn determinierenden Natur zu emanzipieren. Ein Kampf, den man nie gewinnen, den man höchstens nicht verlieren kann.
    Zweitens wurde mir durch das Bedenken meines Impulses, den vermeintlichen Nazi zur Rede zu stellen, die Tendenz des Menschen bewusst, als soziales Wesen jeden, der anders als das Nest riecht, tot zu beißen. Hier ging es dem Blockwart nicht anders als es dem modernen AntiFa geht, so meine zugegebener Maßen auf den Aha-Effekt zielende These.
    Meine moralinschwangere Empörung jedenfalls ist das gemeinsame Kennzeichen von ideologischer Determiniertheit und der für mich ungewöhnlichen und mich im Nachhinein peinlich berührenden Rolle einer Wächterexistenz.

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    Das Kainsmal/18.12.2010

    [Dieser Text entstand zu der Zeit, als ich die Passage über das Kainsmal im Kapitel „Genesis“ gedanklich zum ersten Mal konzipierte. Aus der Distanz heraus wirkt er auf mich heute gelungener als der in die „Skizzen“ eingeflossene Text.]

    Die Idee eines Höher und Weiter innerhalb der Menschheitsgeschichte gehört zum Basis-Rüstzeug fast aller Gesellschafts- und Geschichtstheoretiker spätestens seit der Neuzeit. Ausnehmen sind rar. Der wohl bekannteste Vertreter eines Kultur- und Zivilisationspessimismus mit idealisiertem Rückgriff auf eine herrschafts- und besitzfreie Urgesellschaft ist J. J. Rousseau. Verstärkt propagiert wurden auf ihn zurückgehende Formen des politischen (positiven) und negativen Primitivismus in der Moderne; wohl auf Grund der brutalen Kontraste aller Schattierungen von Ordnung und Gewalt, Exzessen und Kriegen im „Zeitalter der Extreme“ (Hobsbawm), im 20. Jhdt.

    Wem solche Gedanken als originär neuzeitlich erscheinen, der täuscht sich.
    Wohl kein episches Brüderpaar, und ihrer gibt es viele in der Überlieferung des Menschen, hat bis heute im Westen, also zur Zeit eh überall, die Bekanntheit der beiden Söhne des ersten Menschen: Kain und Abel. Die betreffende Textstelle in der Genisis ist kurz, nimmt in etwa eine dreiviertelte Spalte ein. Hier heißt es in der Einheitsübersetzung:

    Adam erkannte Eva, seine Frau; sie wurde schwanger und gebar Kain. Da sagte sie: Ich habe einen Mann vom Herrn erworben. Sie gebar ein zweites Mal, nämlich Abel, seinen Bruder. Abel wurde Schafhirt und Kain Ackerbauer. (Gen. 4;1-2)

    Die theologische Deutung der beiden Brüder als Archetypen zweier entgegengesetzter Lebens- und Wirtschaftsformen ist heute schon fast Allgemeingut.
    Abel repräsentiert hier das aneignende Nomadentum (für manche eine niedrigere Stufe, eine Vorgängerstufe des Bauern, dass lässt sich historisch allerdings nicht halten).
    Kain, der Ackerbauer, steht für den „schaffenden“ Menschen der Kultur- und Zivilisationsphasen.
    Wie im richtigen Leben sind sich beide nicht grün.

    Nach einiger Zeit brachte Kain dem Herrn ein Opfer von den Früchten des Feldes dar; auch Abel brachte eines dar von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Der Herr schaute auf Abel und sein Opfer, aber auf Kain und sein Opfer schaute er nicht. Da überlief es Kain ganz heiß und sein Blick senkte sich. (Gen. 4;3-5)

    Sie säen nicht und ernten nicht, diese Vögel, und trotzdem lässt sie der Herrgott nicht verhungern.
    Es ist kein egoistischer Zorn, keine Eitelkeit, die den guten Kain da überkommt. Es ist die Heidenwut der Fleißigen und Anständigen angesichts der unmoralischen, weil minimalistischen, Wirtschaftsweise des arbeitsscheuen Nomaden Abel.

    Der Herr sprach zu Kain: Warum überläuft es dich heiß und warum senkt sich dein Blick? (Gen. 4;6)

    Martha und Maria, zwei Schwestern aus Palästina, bewirteten vor knapp zweitausend Jahren einen gewissen Jesus von Nazareth in ihrem Haus. Martha, ganz brave Hausfrau im heutigen christkatholischen Sinn, sorgt sich um die korrekte Bewirtung des Gastes, achtet darauf, dass alle Konventionen der recht formalisierten orientalischen Gastfreundschaft eingehalten werden. Indessen gehen ihr, so beschäftigt mit dem G'hört sich, die Reden des Gastes herzlichst am Arsch vorbei, für eine Frau wie Martha ist das Gesagte wohl auch wirres Zeug. Maria, ihre Schwester, hingegen lauscht den Ausführungen des Gastes, die beruhigende Geschäftigkeit, das Opium der Pflichterfüllung ganz vergessend, asozial.
    Promt folgt der pädagogisierende Weisel der Schwester. Doch Jesus weist Martha zurecht: Du kümmerst dich um Vieles, doch notwendig ist nur das Eine; porro unum est necessarium.

    Nicht wahr, wenn du recht tust, darfst du aufblicken; wenn du nicht recht tust, lauert an der Tür die Sünde als Dämon. Auf dich hat er es abgesehen, doch du werde Herr über ihn! Hierauf sagte Kain zu seinem Bruder Abel: Gehen wir aufs Feld! Als sie auf dem Feld waren, griff Kain seinen Bruder Abel an und erschlug ihn. (Gen. 4;6-7)

    Kolonisations- und Zivilisierungsleistungen der Kulturvölker sind gespickt mit solchen Kollataralschäden; historisch notwendig, für Spannungsmenschen aber unerträglich.

    Da sprach der Herr zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er entgegnete: Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders? Der Herr sprach: Was hast du getan? Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden. So bist du verflucht, verbannt vom Ackerboden, der seinen Mund aufgesperrt hat, um aus deiner Hand das Blut deines Bruders aufzunehmen. Wenn du den Ackerboden bestellst, wird er dir keinen Ertrag mehr bringen. Rastlos und ruhelos wirst du auf der Erde sein. Kain antwortete dem Herrn: Zu groß ist meine Schuld, als dass ich sie tragen könnte. Du hast mich heute vom Ackerland verjagt und ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen; rastlos und ruhelos werde ich auf der Erde sein und wer mich findet, wird mich erschlagen. (Gen. 4;9-14

    Wer mich findet, wird mich erschlagen. Die zivilisationskritischen Strömungen aller Zeiten haben ihn gefunden. Alle sahen in Kain, wie auch immer sie ihn sich ausmalten, den Beginn einer fatalen Entwicklung, die den Menschen von sich selbst entfremdet und schrittweise versklavt.
    Das Blut Abels, des edlen Wilden, schreit zu uns heute aus dem Ackerboden, der alle kulturellen und zivilisatorischen Errungenschaften wachsen ließ, das dachte sich wohl auch Rousseau.
    Viele, die sich auf ihn und andere Köpfe seines Kalibers beriefen, sahen in der Erkenntnis der Schlechtigkeit der Welt nur die halbe Miete. Abel sollte wieder auferstehen, Kain sollte sterben.
    Sie bauten Staaten, in denen Besitz neu verteilt, Arbeit neu bewertet wurde, in denen die verkommenen hierarchischen Strukturen durch egalitäre ersetzt werden sollten. Die Staaten, die sie schufen, steckten Dissidenten in Gefängnisse, schickten kritische Intellektuelle aufs Land, führten den Arbeitszwang ein, brachten Millionen um, fraßen ihre Väter. Sie waren, kurzum, die besseren Kainsstaaten.

    Der Herr aber sprach zu ihm: Darum soll jeder, der Kain erschlägt, siebenfacher Rache verfallen. Darauf machte der Herr dem Kain ein Zeichen, damit ihn keiner erschlage, der ihn finde. Dann ging Kain vom Herrn weg und ließ sich im Land Nod nieder, östlich von Eden. (Gen. 4;16-16)

    | Nachträge

    Über die Grenzen Europas und was es demnach ist (Kurzessay)/06.02.2013

    [Im Rahmen einer Lehrveranstaltung von Anton Pelinka an der Universität Klagenfurt mit dem Titel „Friedensmacht Europa?“ verfasst, greift dieser Text über die Scheinerwerbsbedingungen (bloßes Beschreiben eines beliebigen Aspektes der Europäischen Integration, vorzugsweise einer ihrer Institutionen) hinaus (ich war mir bis zur positiven Beurteilung meiner Arbeit nicht sicher, ob er nicht etwa daran vollkommen vorbei geht) und knüpft, in Hinblick auf eine weitere Verwendung im Rahmen meines Projektes anarcho.at, an andere, von mir an verschiedenen Stellen (z.B. in den „Skizzen“; mehrmals im „Predigtdienst“, z.B. hier und hier; auch in meiner „Boesiesammlung“) des Projektes geäußerte Gedanken an.]

    Omins determinatio est negatio1 schrieb in der Mitte des 17. Jahrhunderts der niederländische Philosoph Baruch de Spinoza.
    Der Begriff „Europa“, hier vor allem im Sinne einer gemeinsamen europäischen Identität verstanden, hat schon seit Jahrhunderten einen ganz außergewöhnlichen Klang. Seit dem ausgehenden Mittelalter wurde er von Machthabern und Intellektuellen in ganz unterschiedlicher Weise benutzt, um ihr politisches Programm zu transportieren. Von der Idee einer Universalmonarchie über die gemeinsame Abwehr der Türken, den westfälischen Frieden sowie die Herausbildung eines europäischen Gleichgewichts im 18. Jahrhundert2 bis zur Utopie der „Vereinigten Staaten von Europa“ des Richard Coudenhove-Kalergi, die unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges entstand, der im Wesentlichen ein Krieg zwischen europäischen Nationen war, kam es in der europäischen Geschichte, ausgehend von Einzelnen oder als ideologische Unterfütterung von großen Friedensschlüssen und der Zusammenarbeit der europäischen Mächte, immer wieder periodisch zur Betonung des Europäischen.
    Der britische Historiker Geoffry Barraclough konstatierte, ganz im Sinne des eingangs erwähnten Satzes Spinozas: Die auffälligste Schwäche der europäischen Idee bleibt, daß [sic!] sie stark nur so lange bleibt, solange die Bedrohung Europas stark bleibt. Es ist eine befristete Einheit, die auf einer zeitweiligen oder auch nur vermuteten Gemeinsamkeit der Interessen beruht und schnell zerfällt, sobald der unmittelbare Zweck weniger drängend ist.3 Europa, als Begriff, als Idee, gewinnt demnach nur Gestalt in Hinblick auf etwas, das nicht Europa ist, mehr noch: nach Barraclough gewinnt es Gestalt in Hinblick auf etwas, das ihm entgegengesetzt ist. Europa wird konstituiert durch seine Grenzen.
    Zu Beginn der europäischen Integration, so man sie mit der Gemeinschaft für Kohle und Stahl beginnen lässt, war die Grenze klar; war das „Innen“ klar über das „Außen“ definiert:
    Nach dem zweiten großen Krieg des Zwanzigsten Jahrhunderts, der wiederum vor allem ein Krieg zwischen europäischen Mächten war, wollte man sich gegen die bisherige Machtpolitik der großen europäischen Nationen abgrenzen und suchte sie durch die gemeinsame Verwaltung von kriegswichtigen Gütern und den gemeinschaftlichen Zugriff auf sie zu eliminieren. Eingebettet in den großen West-Ost-Konflikt war das „Außen“ die totalitären „Volksdemokratien“ und das „Innen“, also Europa, daher Teil des Westens. Das bedeutet: europäische Staaten waren liberale Demokratien mit Rechtsstaatlichkeit und marktwirtschaftlicher Wirtschaftsordnung. Ein Definitionskriterium für das „Innen“, das bis heute unverändert gilt.
    Für diese Periode, wie überhaupt für die Zeit des Kalten Krieges kann man festhalten dass die kommunistische Bedrohung im Osten Europas nach dem Zweiten Weltkrieg eine Katalysatorwirkung auf die westeuropäische Entwicklung hatte. […] Vor allem die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland (Westdeutschland) zu einer stabilen Demokratie und deren Einbindung in den Westen Europas [ermöglichte] einen Prozess einer europäischen Integration, der zu den Europäischen Gemeinschaften und später zur Europäischen Union führte und den teilnehmenden Staaten Wohlstand und Frieden brachte.4
    In diesem Sinne kam es in den folgenden Jahrzehnten zur Ausweitung der Grenzen des nun (nach Abschluss zweier weiterer Verträge, nämlich dem „Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“ und den „Vertrag über die Europäische Atomgemeinschaft“ 1957; zusammenfassend auch „Römische Verträge“ genannt) „Europäische Gemeinschaften“ genannten Projektes der europäischen Integration; zuerst, ermöglicht durch die Aufgabe des britischen Weltmachtsanspruchs, nach Norden, nämlich um Großbritannien und Irland; außerdem um Dänemark. Als in der ersten Hälfte der Achtzigerjahre die autoritären Regime in Portugal, Spanien und Griechenland ein Ende fanden, beeilte man sich seitens der EG diese Länder ebenfalls zu integrieren.
    Durch das Siechtum und den Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus in den späten Achtzigerjahren und der darauf folgenden Etablierung von mehr oder weniger rechtsstaatlichen und marktwirtschaftlichen Systemen in vielen Staaten Mittel- und Osteuropas wurde die Frage nach den Grenzen Europas plötzlich wieder aufgeworfen.
    Waren nicht nur die Grenzen Europas, sondern auch die Grenzen in Europa zwischen den einzelnen europäischen Staaten durch die weltpolitischen Verhältnisse im Kalten Krieg klar definiert und stabil, so kam es nun in Folge des Endes der kommunistischen Regime in Mittel- und Osteuropa zum Auseinanderbrechen bestehender und zur Gründung neuer souveräner Staaten. Nach Michel Foucher kam es hierbei zur Neuaufrichtung von knapp 13.000 Kilometern Staatsgrenze.5 Parallel dazu erlebte in den Transformationsstaaten der Nationalismus eine Renaissance. Außerdem erlebten beispielsweise in den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien auf kroatischer und serbischer Seite „abendländische“, damit „gesamteuropäische“ gedankliche Konzepte, die gegen die Muslime Bosniens als Überbleibsel der osmanischen Fremdherrschaft gerichtet waren, Hochkonjunktur. Die Sicht auf die Muslime als vom eigenen Volkstum abgefallene Renegaten führte zu einer Verquickung nationaler mit gesamteuropäischer Abgrenzungen.6
    Durch die Erweiterungen der Europäischen Union seit 1995 (die Zahl der Mitglieder hat sich seither mehr als verdoppelt) wurde die Frage nach der „Finalität“ (Pelinka) Europas endgültig aufgeworfen.

    Anton Pelinka vertritt in seinem Buch „Europa. Ein Plädoyer“7 die These, dass die territoriale Erweiterung der Europäischen Union, die sie seit ihrer Gründung in mehreren Schüben von einem Frankreich, Deutschland, Italien und die Benelux-Länder umfassenden lockeren Zusammenschluss zu einer die meisten Staaten des geografischen Europas und Zypern, sowie einige Überseebesitzungen europäischer Staaten umfassenden politischen Gemeinschaft gemacht hat, in naher Zukunft zum Stillstand kommen wird. Zumindest sei ein solcher Stillstand unter bestimmten Bedingungen wünschenswert: Diese These liegt im von ihm eingeräumten Vorrang eines geografischen Europabegriffs vor einem kulturellen oder religiösen begründet.8
    Demnach reiche die bloße kulturelle Prägung durch Europa ebenso wenig wie das Vorhandensein einer stabilen Demokratie und (damit verbunden) die marktwirtschaftliche Ausrichtung aus, um ein Land für die Mitgliedschaft in der europäischen Union zu qualifizieren. Wären diese beiden Kriterien die einzigen Voraussetzungen, so könnten im Falle der kulturellen Prägung auch Länder wie Chile, im Falle der marktwirtschaftlich-demokratischen Ordnung Länder wie Japan den Status eines EU-Beitrittskandidaten beanspruchen, so die eingängigen Beispiele Pelinkas.9
    Dass die geografischen Grenzen Europas bei den Erweiterungen nicht immer den letztendlichen Ausschlag für oder gegen den Beitritt einzelner Länder gaben (sondern beispielsweise ein Interesse an der Festigung junger Demokratien, oder, wie im folgenden Fall, Interessen einzelner Mitgliedsstaaten), zeige das Beispiel Zyperns – ein Negativbeispiel darüber hinaus noch durch seinen ungelösten Konflikt mit den türkischen Zyprioten und ihrem Staat, sowie mit der Türkei.10
    Doch unabhängig von konkreten Fragestellungen hinsichtlich des Beitrittes von Einzelstaaten wie beispielsweise der Türkei geht es Pelinka in seiner Frage nach möglichen noch verbleibenden Beitrittskandidaten und seinem Postulat eines baldigen Endes der territorialen Ausdehnung der Europäischen Union (und einer daraufhin möglichen vermehrten inneren Vertiefung der europäischen Integration; der möglichen Entwicklung hin zu einem Bundesstaat11) um eine grundsätzliche Bestimmung dessen, was denn Europa, was damit im zweiten Schritt auch die Europäische Union sei. Als letztendliches Kriterium einer Zugehörigkeit zu Europa, neben den beiden unverzichtbaren, jedoch aus der politischen und kulturellen Geschichte erklärbaren Voraussetzungen für einen Beitritt zur Europäischen Union, liberale Demokratie und Marktwirtschaft nämlich, gilt ihm die geografische Lage. Die geografischen Grenzen Europas (mit in politischer und historischer Hinsicht einleuchtenden Ausnahmen wie Island) sind nach Pelinka also wünschenswert auch die äußersten Grenzen der Europäischen Union.
    Das ist dem Bedürfnis nach einer klaren Abgrenzbarkeit des Europabegriffes geschuldet: Die Grenzen Europas brauchen eine geografische Qualität, sonst zerfließt der Europabegriff und wird letztendlich beliebig.12
    Zu Recht kritisiert Pelinka in diesem Zusammenhang auch den Versuch, Europa primär nicht über die Geografie, sondern die Kultur, genauer: nicht mehr über seine geografischen Grenzen, sondern über die kulturellen oder religiösen zu definieren.13
    Begriffe wie „Abendland“, „Christenheit“ oder „Westen“ sind zu wenig scharf umgrenzt, zu schwammig, gestatten zu viel Deutungsmöglichkeiten, um mit ihnen dem Begriff „Europa“ scharfe, für jedermann nachvollziehbare und dem Anspruch nach objektive Grenzen zu ziehen und ihn damit verbindlich zu definieren.
    Doch dabei vergisst meiner Ansicht nach Pelinka eine notwenige Voraussetzung moderner, auf Massendemokratie, auf öffentliche Meinung und ihre Bildung abgestellter Politik, oder misst ihr zumindest keinen größeren Stellenwert zu: Sie muss, um massenwirksam zu sein, eine emotionale Komponente enthalten. Das war, man erlaube mir diese Bemerkung, das Dilemma des Zwanzigsten Jahrhunderts.

    Das Argument für geografische, quasi objektive Grenzen, erinnert ein bisschen (seiner Form, natürlich nicht seinem Inhalt nach) an außenpolitische Prämissen des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts. In einer Zeit, in der von politische Mitbestimmung breitester Bevölkerungsschichten keineswegs die Rede sein konnte und in der die Außenpolitik einen klaren Primaten gegenüber jeder Form der Innenpolitik hatte, in der außerdem in Hinsicht auf die außenpolitischen Interessen ein großes Ausmaß an Berechenbarkeit der Aktionen einzelner Staaten herrschte, konnten außenpolitische Ziele ohne die Zuhilfenahme der Politisierung der Massen, die später vorzugsweise über den Begriff „Nation“ stattfand, gesetzt und angestrebt werden. Die Fürsten suchten für ihre Territorien sogenannte „natürliche Grenzen“ zu erreichen. Als bekanntestes Beispiel hierfür kann die Außenpolitik Frankreichs unter Ludwig XIV., dem „Sonnenkönig“ gelten. Seitens der französischen Monarchie versuchte man die „objektive“, die „natürliche“ Grenze Frankreichs am Rhein zu etablieren.
    Hier schließt sich der Bogen zu den geografischen Grenzen Europas. Hier wird auch klar, was beide der von mir hier in Analogie gebrachten Modelle ausklammern: Im ersten Fall ignorierte das Bestreben, die Grenzen Frankreichs an seine „natürlichen Grenzen“ vorzuschieben, Größen wie die Sprache, die Geschichte, in Ansätzen auch die Kultur, also das, was im 19. Jahrhundert unter dem Begriff der „Nation“, zumindest in Mittel-, Süd- und Osteuropa, der Motor dessen wurde, was ich, keineswegs nur beschränkt auf den Bereich politischer Partizipation oder gar missverstanden als Ausbau liberaler Errungenschaften wie die des Rechtsstaates, als „Demokratisierung“ der Politik bezeichnen möchte. Im zweiten Beispiel, also im Anspruch an die Politik, objektive Gegebenheiten als wichtigste Prinzipien politischer Entscheidungen anzuerkennen, klammert man mit den Populismen und Chauvinismen den Treibstoff, der die Politikmaschinerie in unseren heutigen europäischen „Massendemokratien“ antreibt, aus.

    In der geopolitischen „Postmoderne“ nach dem Zusammenbruch des bipolaren Systems des Kalten Krieges, der natürlich nicht das „Ende der Geschichte“14 bedeutete, scheinen Grenzen heute schwer zu ziehen.
    Den „Sonnenkönig“ und eine verspätete Figur der Politik des 18. Jahrhunderts, Metternich nämlich, trennen ungefähr 150 Jahre europäische Geschichte und zwei atlantische Revolutionen voneinander. Es war dieser Metternich, dieses außenpolitische Talent ersten Ranges, dieser „Kutscher Europas“, der in vollkommener Verkennung der neuen, im Wesentlichen durch die Französische Revolution angestoßenen Prozesse der Politisierung der Massen in den Staaten Europas, im Zusammenhang mit der vorübergehenden Niederhaltung des italienischen Nationalismus und der Wiederaufrichtung der vornapoleonischen Mittel- und Kleinstaaten in Italien vom „geographischen Begriff“ sprach, der Italien nun endlich wieder geworden sei. Eine auf Berechenbarkeit und auf das Zusammenspiel der Staaten Europas fußende Ordnung war inzwischen durch die „Demokratisierung“ der Politik, auch der Außenpolitik, auf lange Sicht zum Scheitern verurteilt.
    Es geht mir hier keineswegs darum, die Machtpolitik der Herrscher des Ancien Régime hinsichtlich ihrer außenpolitischen Ziele, oder gar in irgendeiner Form ihre Innenpolitik mit der politischen Arbeit der Europapolitiker und der Beamten der EU in Brüssel, Straßburg, Luxemburg und Frankfurt am Main zu vergleichen. Die europäische Integration ist (oder war zumindest in ihren Anfängen) nicht primär auf klassische Machtpolitik abgestellt, sondern im Gegenteil, auf ihre Verhinderung nach den Erfahrungen zweier Weltkriege, die vor allem auch europäische Bürgerkriege waren. Abgesehen davon operieren die Verantwortlichen in der Europäischen Union in einem Umfeld, dass durch einen hohen Grad an Bürokratisierung, durch Bildung und Rezeption von öffentlicher Meinung, durch gesamteuropäische Dachorganisationen nationaler Massenparteien usw. geprägt ist.
    Doch genau dieser Unterschied veranschaulicht auch das Dilemma der Bestimmung der Grenzen Europas und damit der Bestimmung Europas als primär geografisch: Einerseits erkennt man die Beliebigkeit und damit die Anfälligkeit für Missbrauch von Europabegriffen, die auf weniger objektive, dafür aber potenziell massenwirksame Kriterien wie Kultur und Religion, möglicherweise auch auf diffuse Begriffe wie „Rasse“ etc. abstellen und will sie daher aus naheliegenden Gründen vermeiden, andererseits jedoch befindet man sich als politischer Akteur in einem Umfeld, das auf Grund seiner Spielregeln genau diese potenziell emotionsgeladenen Zugänge begünstigt.
    In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts glaubte man an die Möglichkeit, Fragen der Politik auf rationale und für alle beteiligten Mächte befriedigende Weise durch (mehr oder weniger) gesamteuropäische Kongresse der Fürsten und Staatsoberhäupter, sozusagen „top down“ lösen zu können. Obwohl die Zahl der politischen Parteien in den einzelnen Ländern und sowohl ihre Mitgliederzahl, als auch ihr politisches Gewicht bei weitem geringer waren als im Europa der 27 EU-Mitgliedstaaten, obwohl während des Wiener Kongresses und während der Konferenzen in Aachen, Troppau, Laibach und Verona wohl weniger Lobbyisten (die es damals durchaus gab15) zugegen waren, als bei der Kommission in Brüssel, scheiterte dieser realpolitische und rationale Ansatz im Laufe des 19. Jahrhunderts gründlich.

    Gerade in Österreich hat der Prozess der europäischen Einigung ein Imageproblem. Die Themenvorherrschaft in diesem Bereich haben europakritische, populistische Parteien, die darüber hinaus in ihrer Agitation vermehrt auf Begriffe wie Kultur und Religion zurückgreifen, vor allem auf Grund der Tatsache, dass sich mit ihnen leichter emotionalisieren, also in modernen Demokratien Politik betreiben lässt. Natürlich sind die Grenzen des „Österreichertums“, noch viel mehr des postulierten „Abendlandes in Christenhand“ (um nur zwei Begriffe, noch dazu ausschließlich solche aus der österreichischen Diskussion und ausschließlich aus einer weltanschaulichen Richtung anzuführen) unklar und diffus im Vergleich mit dem Ural, der Wolga, dem Kaspischen Meer, dem Kaukasus, dem Schwarzen Meer, den Meerengen usw. Doch es hat den Anschein (für mich), als wären sie in Zeiten der Massendemokratie in mancherlei Hinsicht wirkmächtiger als diese.
    Natürlich liegen bei den Verantwortlichen in den Institutionen der Europäischen Union mannigfaltige Entscheidungskompetenzen, doch ihre Entscheidungen werden nicht in ähnlicher Weise von den Menschen als die Entscheidungen demokratisch legitimierter Politiker wahrgenommen, wie die Entscheidungen der nationalen Parlamente und Regierungen. Sie werden als Fremdbestimmung, als Einmischung von außen empfunden, weil der Begriff „Europa“ für die Menschen einen merkwürdigen, nichtssagenden Klang hat; weil er nichts bedeutet.
    Spinnt man diese Gedanken weiter, stehen die politischen Eliten vor der Alternative, auf europäischer Ebene Realpolitik zu betreiben, die jedoch den Menschen schwer zu vermitteln ist, oder (wie es ohnehin heute bereits im großen Ausmaß passiert) auf Kosten der gesamteuropäischen Perspektive politisches Kleingeld zu wechseln.
    Das alles hat, zumindest mittelbar, etwas mit der Alternative zwischen der Definition, also der Begrenzung Europas, entweder in für alle nachvollziehbarer, quasi objektiver Weise durch seine geografischen Grenzen, oder aber durch diffuse, aber potenziell massenwirksame, emotional aufgeladene Begriffe wie Kultur, Religion, Abendland, im Extremfall „Rasse“ usw. zu tun. In jedem Fall muss „Europa“, um sein zu können, Grenzen haben; ein Außen kennen.

    ❀ ❀ ❀

    ad 1: Vgl. Hegel. L I 121.
    ad 2: Vgl. Neisser, Heinrich: Die europäische Integration – eine Idee wird Wirklichkeit. Innsbruck 2008. S 27-29.
    ad 3: Barraclough, Geoffry: Die Einheit Europas als Gedanke und Tat. Göttigen, 1964. S 51.
    ad 4: Neisser. S 45f.
    ad 5: Vgl. Foucher, Michel: The Geopoliticsof European Frontiers. In: Anderson, Malcom; Bort, Eberhard (Hgg.): The Frontiers of Europe. London, 1998.
    ad 6: Vgl. hierzu beispielsweise: Geier, Wolfgang: AntemuraleChristianitatis: Krezzüge auf dem Balkan. In: Hogbauer, Hannes: Balkan Krieg. Die Zerstörung Jugoslawiens. Wien, 1999. SS 197-219. Oder: Geiss, Imanuel: Der Jugoslawienkrieg. Frankfurt am Main, 1993. S 57.
    ad 7: Pelinka, Anton: Europa. Ein Pladoyer. Wien, 2011.
    ad 8: Vgl. Pelinka. S 41.
    ad 9: Vgl. Ebenda.
    ad 10: Vgl. Pelinka. S 40 f.
    ad 11: Vgl. Pelinka, S 186-191.
    ad 12: Pelinka, S 41.
    ad 13: Vgl. Pelinka, S 51-59.
    ad 14: Eine These, die bekanntermaßen im gleichnamigen Buch von Francis Fukuyama aus dem Jahre 1992 vertreten wurde.
    ad 15: Vgl. beispielsweise: Kerschbaumer, Florian: Von neuen Wegen und bewährten Pfaden. Möglichkeiten und Grenzen der internationalen Geschichte am Beispiel der Sklavenfrage am Wiener Kongress. Dip. Klagenfurt, 2010. S 68-77.

    | Nachträge

    Skizzenfragmente zum Konzept eines anarchistischen Konservativismus

    1. Zwei Jahre danach
    2. Die Ausgangslage
    3. Grundlegendes zur Geschichtsphilosophie Spenglers
    4. „Takt und Spannung“ bei Spengler
    5. Wie der Mensch wurde und was der Mensch ist
    6. Der enttäuschte, bibelfeste Utopist
    7. Die negative Direktive
      1. Nichts glauben wollen
      2. Nichts erzwingen wollen
      3. Sich nicht beherrschen lassen wollen
    8. Der Phantomschmerz links; mein nicht-lassen-Können von der Revolution

    Auch als E-Book verfügbar


    Zwei Jahre danach

    Der folgende Text besteht aus Auszügen aus meinem ersten – und für mich und meine weiteren Projekte grundlegenden – wissenschaftlichem Essay aus dem Jahre 2011, in dem ich mich im Großen und Ganzen mit Oswald Spenglers Hauptwerk „Der Untergang des Abendlandes“ beschäftigte.
    Von Anfang an spielten die geschichtstheoretischen Überlegungen Spenglers, so sie sich an konkreten historischen Vorgängen und an Analogien, die aus diesen zum Verständnis für gegenwärtige und zukünftige Situationen angeblich gezogen werden können1, orientieren, für meine Rezeption seines Werkes eine untergeordnete Rolle. Viel wichtiger waren für mich seine im Anschluss an Nietzsche entwickelten, von ihm selbst so bezeichneten, grundlegenden „metaphysischen“ Gedanken zur Geschichte, aber auch zum Menschen.
    Insbesondere das Gegensatzpaar „Takt und Spannung“ wurde für mich – im Laufe der Zeit erweitert und arrondiert um andere Gegensatzpaare, die nach meinem Dafürhalten ähnliches ausdrücken, wie „dionysisch-apollinisch“, „Pflanze-Gott“ oder „weiblich-männlich“ – zur Grundlage meines dualistischen Welt- und Menschenbildes.
    Spengler und sein „Untergang“ waren also die Initialzünder für meine (ernsthafte) Beschäftigung mit Philosophie.
    In dieser Auswahl habe ich versucht, den Akzent auf Passagen der „Skizzen“ zu legen, die für mich heute noch von ähnlicher Relevanz sind, wie vor zwei Jahren.
    Wer Interesse daran hat, den Volltext zu lesen, dem sei die Webseite www.anarcho.at/skizzen empfohlen; dort finden sich auch die verschiedensten Nachträge zum eigentlichen Text. Änderungen im Text sind mit eckigen Klammern versehen.

    Die Ausgangslage

    [Wer bereit ist für einen anarchistischen Konservativismus? Einer mit offenen Augen!]

    Als enttäuschte Utopisten und frischgebackene Pessimisten suchen wir nach einer Erklärung für den Umstand, dass bisher alle Experimente zur Schaffung einer besseren Welt scheitern mussten.
    Wer sich von den Allgemeinplätzen über die – angeblich angeborene – Schlechtigkeit der Menschen nicht beeindrucken lassen will, [der] könnte auf den Gedanken kommen, dass die Utopien, welche uns über die Jahrhunderte angeboten wurden, auf dem Boden der Zustände gewachsen sind, die sie ändern wollten. Des Weiteren könnte man auf die Idee kommen, dass sich der momentane, als schlecht empfundene Zustand und die positive Utopie, die ihn ändern zu wollen vorgibt, innerlich in dem Maße ähnlich sind, dass ihre Umsetzung nichts Wesentliches an der gängigen Praxis ändern, oder schlimmer, dass sie eine vorgezeichnete Entwicklung beschleunigen würde.

    Zum ersten Mal kam ich vor einem Jahr mit diesen Ideen in Berührung. Vor knapp hundert Jahren führte sie Oswald Spengler, ein deutscher Geschichtsphilosoph, in seinem Hauptwerk „Der Untergang des Abendlandes“ aus. Bei Spengler ist dieser Gedanke nur einer von vielen und steht im Schatten seiner Betrachtungen über eine angenommene Morphologie der Weltgeschichte.
    Für mich, als jemanden, der nach einer Neubewertung von positiven Utopien strebte, wurde seine Idee eines unterschiedlichen Welterlebens, seine Idee eines Dualismus von „Takt und Spannung“, zum Ausgangspunkt einer meinem Wesen entsprechenden Weltsicht.
    Dem Nein-sagen, dem anarchistisch-konservativen Nihilismus. Oder wie das heißt.

    Grundlegendes zur Geschichtsphilosophie Spenglers

    In seinem Hauptwerk, es erschien in zwei Bänden 1918 bzw. 1922, beschäftigt sich Oswald Spengler ausgiebig mit der theoretischen Einordnung und Deutung von „Weltgeschichte“. Sein wesentlicher Beitrag ist die Problematisierung der gängigen Einteilung „Altertum-Mittelalter-Neuzeit“2 und damit auch des linearen und progressiven Geschichtsverständnisses der Moderne.
    Der landläufigen, auch heute noch weit verbreiteten Auffassung, von einer kontinuierlichen Entwicklung hin zu einem „Höher“ und „Besser“, [...] setzt er eine differenzierte Sicht auf die organische Entwicklung einzelner „Kulturen“ entgegen.3 4
    Diese, es sind insgesamt acht5, beschreibt er als Lebewesen, verhaftet in der sie umgebenden Landschaft. Man könnte also von Pflanzen sprechen.6
    Die Entwicklung der einzelnen Kulturen folgt einem innerlich immer gleich bleibendem Muster von Wachsen und Vergehen. Spengler nennt diese zwei Phasen „Kultur“ und „Zivilisation“.

    Die Phase der „Kultur“ ist geprägt von schöpferischen Impulsen und genuinen Entwicklungen7 in allen Künsten8, der Entwicklung hin vom städtelosen Land zur kulturschwangeren „Großstadt“9 10 und einer politischen Entwicklung vom staatenlosen „ewigen“ Bauern11, über die sich aus dem Bauerntum entwickelnde Aristokratie, den Klerus als Stand der „Spannung“12 (siehe nächstes Kapitel) und der Entstehung des „Nichtstandes“ der Städtebürger13, zu den Anfängen des modernen Nationalstaates und der Wende zur „Zivilisation“14 (im Abendland um das Jahr 1800)15.

    Die Phase der „Zivilisation“ wird bestimmt durch eine Rezeption und Nachahmung früherer künstlerischer Stile und den Import fremder Ornamente und Themen16, der Herausbildung belehrender oder moralisierender Ausdrucksformen17, der Entwicklung eines Kunsthandwerks, sowie der Entwicklung von der Großstadt mit Umland über die Welt-18 und Hauptstadt19, die den Rest des Landes veröden lässt, zur spätzivilisierten entvölkerten Steinwüste (z.B. Rom in Spätantike und Frühmittelalter für die griechisch-römische Zivilisation)20.

    Der kulturellen Verarmung steht eine, während der Kulturphase undenkbare, Verfeinerung der Kunst des Herrschens gegenüber.21 22 Politisch ist jede „Zivilisation“ anfangs geprägt vom Kampf für eine – vermeintliche – Ausdehnung des politischen Mitspracherechtes auf möglichst alle gesellschaftlichen Schichten. In ihrer frühen Phase entwickelt sich die „Demokratie“ als angestrebte „Herrschaft der Meisten“. Berufspolitiker prägen eine neue Kunst des Regierens. Im Abendland findet sie ihren Ausdruck in den Parlamenten. Auch entsteht dort eine Parteienlandschaft und eine „freie Presse“. Die öffentliche Meinung wird zum Motor politischer Veränderung. Ihre Bearbeitung erfolgt durch den Journalisten. In Folge dessen kommt es zu einem vermehrten Auftreten von populistischen Politikern und Demagogen. Die Einflussnahme auf die Bevölkerung geschieht immer direkter, bis hin zum offenen Stimmenkauf und zur Bestechung (z.B. während der antiken hochzivilisierten Phase im Rom der Bürgerkriege und der ersten Caesaren).23
    Schließlich gelingt es Einzelnen, die volle Macht zu usurpieren und den gesamten Staat ihren Privatinteressen dienstbar zu machen. Damit steht auch die politische Entwicklung vor ihrer Vollendung und damit ihrem Ende.24 Es folgt eine imperialistische Phase („die Welt als Beute“) und an deren Ende das Zeitalter des „Weltfriedens“, der Dominanz starker Einzelherrscher über die gesamte Zivilisation (z.B. in der spätzivilisierten Phase der chinesischen Kultur, der Kaiserzeit).25 Dies alles wird dialektisch beschleunigt durch die Einmischung der „Spannungsmenschen“, Gelehrter und Philosophen, in die ihnen fremde, „taktbestimmte“ Welt der Politik (siehe nächstes Kapitel).

    [Seine Annahme bestimmter Ähnlichkeiten in den Strukturen der Entwicklung einzelner Kulturen/Zivilisationen] bedeutet jedoch keineswegs, dass Spengler der Auffassung anhängen würde, Geschichte wiederhole sich. Im Gegenteil:
    Einer seiner Grundpostulate ist die Unvergleichbarkeit von Antike und abendländischer Kultur26, was bereits in der Ablehnung der Idee von „Altertum-Mittelalter-Neuzeit“ zum Ausdruck kommt. Der Charakter dieser (pflanzenhaften) Kulturen27 ist von der Form der sie umgebenden Landschaft28 abhängig. Hier unterscheidet er zwischen drei Grundformen. Einerseits dem „magische“ Kulturtypus, er hat seine Stammlandschaft in der Einsamkeit der nahöstlichen Wüsten; magische Kulturen sind: die ägyptische, die babylonische, die „arabische“ (mit der charakteristischen Persönlichkeit Jesu an ihrem Beginn und ihrer spätzivilisierten Ausprägung im Osmanischen Reich und den modernen Aschkenasim)29. Dann der „apollinischen“, der diesseitigen und dinglichen Kulturen, allen voran die griechisch-römische Antike. Schließlich, als Sonderfall und Gegenpol zur Antike, der „faustischen“ Kultur, dem Abendland, mit seiner Tendenz zur [Entgrenzung] im Denken und Fühlen.
    Nicht umsonst umspannt die faustische Kultur heute, noch in der ersten Hälfte ihrer Zivilisationsphase, den gesamten Erdkreis.30 Sie drückt mit ihren Ansichten und Werten, [dem Arbeitsethos], dem Nationalstaat, der wirtschaftlichen Expansion, der Welt ihren Stempel auf. Ihre zivilisatorischen Höhepunkte werden Arbeitsethik bis zur Arbeitspflicht, Etatismus bis zum Totalitarismus31 und ein „Weltfriede“, dem totale Kriege vorausgehen werden sein32.

    „Takt und Spannung“ bei Spengler

    Im Verständnis Spenglers gibt es innerhalb des Zeitalters des „höheren“33, das heißt, des innerhalb einer Kultur lebenden, aus der Vorzeit in die Geschichte tretenden, Menschen zwei Formen menschlichen Erlebens und zwei verschiedene daraus folgende Weltsichten:

    Einerseits ist dies die Sphäre des Taktes. Sie ist das Pflanzenhafte, im Kosmos aufgehobene, durch die Umstände geprägte.34 Als „ewige“ Form menschlichen Welterlebens ist sie älter als die Kultur, an deren Beginn sie ihr ihren aus der die Menschen umgebenden Landschaft entstandenen Charakter vermittelt. Sie überdauert diese auch.35
    Als das nicht Bewusste und gleichzeitig an den „Tatsachen“ orientierte, ist die Taktseite charakteristisch für den politischen Urstand Adel36. Seine Bräuche und Überzeugungen entwickeln sich am Anfang der Kulturphase aus den gefühlten Werten des „ewigen“ Bauern der jeweiligen Weltregion. In späteren Zeiten ist das Weltgefühl des Taktmenschen allen Machthabern der Kultur- und Zivilisationsphase eigen. Sie manifestiert sich im Abendland unserer Zeit in den Realpolitikern und Populisten und ihrem Gespür für das Machbare bzw. die Ideologie ihrer Zeit.37
    Auch die totalitären Cäsaren der zivilisatorischen Spätzeit des Abendlandes werden Taktmenschen sein.38

    Andererseits steht am Beginn jeder Kultur die Herausbildung einer genuinen Form eines betont selbstbestimmten, von den „Tatsachen“ abgelösten und nach der Erkenntnis von „Wahrheiten“ strebenden Art des Welterlebens. Spengler nennt diese, nur in Kulturen existente Erscheinung, die Sphäre der Spannung. [Sie ist ein Aufstand gegen das schlechthin Gegebene, das sich im Taktmenschen selbst verherrlicht.]
    Mit der Herausbildung des Urstandes der Geistlichkeit39 beginnt sich das selbstbestimmte, spannungsgeladene, [von Spengler im Gegensatz zum pflanzenhaften als das tierhafte40 bezeichnete] Welterleben zuerst kraftvoll zu artikulieren. Alle Philosophen, Gelehrten, Wissenschaftler und weltanschaulichen Theoretiker der späteren Zeiten sind „Spannungsmenschen“.41 Ihr prinzipielles Streben nach allgemein gültigen „Wahrheiten“ unterscheidet sie zu allen Zeiten von den politisch und „historisch“ empfindenden „Taktmenschen“. Ihnen ist die Macht- und Herrschaftspraxis innerlich fremd. Sie sind ungeeignet für ein Leben als „Politiker“.

    Doch dieser Unfähigkeit zu politischem Denken steht oftmals der Anspruch dieser „Spannungsmenschen“ entgegen, durch die Verwirklichung ihrer, auf mystischem oder kausal-wissenschaftlichem Weg erkannten42, „Wahrheiten“, die Welt verbessern zu wollen. Das ist: Sie gemäß ihrer Vorstellungen zu formen.
    Der Einbruch in die Sphäre des „Taktes“ verläuft indes, auf Grund der Unvereinbarkeit von „Wahrheit“ und „Tatsache“ im politischen Sinne, aus Sicht des Klerikers, Philosophen oder Wissenschaftlers immer im Sande.43 44 Die, an sich, apolitischen, das heißt, nach Spengler, auch ahistorischen, für die Entwicklung von organischem Wachstum und Vollendung von Kulturen irrelevanten „Wahrheiten“ des „Spannungsmenschen“ sind jedoch willkommene Werkzeuge für die am Machbaren und Bestehenden orientierten Kräfte des „Taktes“.
    So lässt sich [zu allen Zeiten] oft eine Diskrepanz [zwischen] philosophischen und weltanschaulichen Postulaten der Vordenker einer spezifischen [gesellschaftlichen oder politischen Lehre] und den Handlungen der [sich auf sie berufenden] politischen Praktiker feststellen. Sie durchzieht die Großideologien des 20. Jahrhunderts wie ein roter Faden. Für die „historisch“ relevante Gruppe von „Machiavellis“ ist die geistig und kulturell relevante Gruppe der „Rousseaus“ nur Werkzeug. „Spannungsmenschen“ befinden sich in der politischen Arena auf fremden Terrain. Ihre Relevanz können sie nur außerhalb der sich immer in ihr „Schicksal“ ergebenden Menschen des „Taktes“, der Politik, der Macht gewinnen. Ihr politisches Handeln ist [in Hinblick auf ihre Ziele] bedeutungslos.45

    Aus Sicht der nach der Erkenntnis von „Wahrheiten“ strebenden Mystikern, Philosophen, Wissenschaftlern und „politischen“ Denkern muss ihr Eingriff in die Welt der „Tatsachen“ immer unfruchtbar bleiben. Mehr noch, die dialektische Förderung „politischer“ Prozesse durch die zur Verfügung Stellung eines an „Wahrheiten“ orientierten Überbaus und ihre Verwertung durch die „Taktmenschen“ (aus Sicht der „Spannungsmenschen“ handelt es sich immer um einen Missbrauch), ist eine ständige Quelle der Frustration für die [Priesterlinge] aller Zeiten und Landschaften.
    „Die Kinder dieser Welt sind [...] klüger, als die Kinder des Lichts.“46
    Die Unversöhnlichkeit beider Arten von Welterleben tritt, nach Spengler, exemplarisch in der Begegnung Jesu mit Pilatus zu Tage: „Was ist Wahrheit?“47 48
    Darum ergeht die spenglersche Forderung vor allem an die „Spannungsmenschen“ aller Jahrhunderte: Man sei Held oder Heiliger. In der Mitte liegt nicht die Weisheit, sondern die Alltäglichkeit.49
    Wer als autonome Existenz innerhalb der Welt wie sie ist nach einer immer wahren Idee sucht, muss die pflanzenhafte Welt des Taktes, der Macht meiden, nicht weniger, als der Teufel das Weihwasser meidet.

    Wie der Mensch wurde und was der Mensch ist

    Enttäuscht vom Affen schuf Gott den Menschen. Danach verzichtete er auf weitere Experimente. (Mark Twain)

    Die Schöpfungsgeschichten, die zwei ersten Kapitel des Buches Genesis, sind zwei unterschiedliche Überlieferungen zur Entstehung des Menschen.

    In der ersten50 wird ein sechstägiges Schöpfungswerk beschrieben, das, aufbauend von den ersten elementaren Ereignissen bis hin zu den ersten Menschen, das Zersplittern von Einheiten beschreibt. Aus der ursprünglichen kosmischen, völlig taktbetonten und harmonischen Einheit von „Himmel und Erde“, von allem Sein, wird über sechs Tage die Dualität zwischen Takt und Spannung, versinnbildlicht im Menschen, ausgebacken. [...]

    Der zweite Schöpfungsbericht51 stellt den Menschen an den Anfang. Aus dem nassen Ackerboden wird er geformt und bekommt von Gott seinen Lebensatem eingehaucht. Dann erst gesellt man ihm [andere] Wesen bei, die alle jedoch seinen Bedürfnissen nicht entsprechen. Erst als ihm im Schlaf ein Teil von ihm genommen wird, findet er in ihm, das nun Frau heißt, all seine Bedürfnisse befriedigt. Noch einmal scheint hier die kosmische Einheit zu siegen: „und sie werden ein Fleisch“.

    Wenn wir an paradiesische Zustände denken, so lassen sich unsere Vorstellungen, so unterschiedlich sie auch individuell sein mögen, auf ein paar eindeutige Begriffe herunterbrechen. Wörter wie Natürlichkeit, Unbefangenheit, Nacktheit, Unschuld, Sorglosigkeit und Liebe, hier in all ihren unaufgeregten natürlichen Formen, geben sehr gut wieder, welche Bilder wir vor Augen haben, wenn wir an den Garten Eden denken.
    All diese Begriffe schließen eines aus: das Welterleben der Spannung. Das Paradies kommt ohne Wahrheiten aus, ohne Erkenntnisse.

    Wann beginnt der Dualismus von Takt und Spannung? Wann fängt der Mensch an Mensch zu sein?
    In der Mitte des Gartens Eden stehen zwei Bäume; einmal der Baum des Lebens, neben ihm der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Wer von ihnen isst, hat das Paradies verwirkt.

    Das dritte Kapitel52 des Buches Genesis beschäftigt sich mit dem „Fall des Menschen“. Das ist seine eigentliche Menschwerdung.
    [...]53 Der Baum des Lebens ist bei weitem nicht so verlockend, wie der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Nach Wahrheit zu suchen ist keine verdammenswerte Sünde, es ist das Charakteristikum des Spannungsmenschen. Dass es nicht Unrecht ist, macht es nicht weniger tragisch. Als die in kosmisch-taktvoller Bewusstlosigkeit lebenden „ewigen“ ersten Menschen dem Drang nachgaben, Gut und Böse erkennen zu wollen, war das das Ende ihrer Tage in Eden.
    Es ist die Tragik des Spannungsmenschen in uns allen, er ist stärker beim einen, schwächer beim anderen, das wahre Abbild Gottes zu sein. Neben unserer diesseitigen, kosmischen Taktseite, bildet er den göttlichen Funken, der nach Wahrheiten sucht. Doch die Spannungsseele kann in dieser Welt nur erkennen, dass sie nackt ist. Sie hat keine Macht über diese Welt. Sie ist ein machtloses Abbild Gottes, sie ist ein unvollkommener, impotenter Gott.

    Der enttäuschte, bibelfeste Utopist

    Die zweite, für die Orientierung der Bibel an der „Spannung“ symptomatische Geschichte im Alten Testament ist der kurze Absatz54 über Kain und seinen historisch irrelevanten, für die Idee des Anarcho-Konservativismus jedoch essentiellen Bruder Abel.

    Viele moderne Theologen deuten den Konflikt zwischen dem ungleichen Brüderpaar heute unter anderem als ein Symbol des Konfliktes zwischen Gruppen mit aneignender und Ackerbau treibender Wirtschaftsform. Die beiden Protagonisten werden zu Archetypen für die aneignende Wirtschaftsform des Nomadentums und der unserem Weltethos heute viel näher stehenden Lebensform des Ackerbauern Kain, dem es eine edle Pflicht ist, den Boden im Schweiße seines Angesichtes zu bearbeiten, der schafft.
    Die Viehhirten nehmen was sie brauchen. Alles Land bis zum Horizont ist ihr Reich. Nomadentum ist geprägt von dem Bewusstsein, Arbeit als bittere Pflicht, als Notwendigkeit zu erleben. Wer zur nomadischen Gruppe stößt und sich als hilfreich erweist, wird zum Teil der Horde, unabhängig von seinem Wertekanon, z.B. seinen religiösen Vorstellungen.
    Bauerngesellschaften sind ganz anders organisiert. Der Bauer bearbeitet den Boden, der exklusiv ihm gehört. Seine Welt ist begrenzt und strukturiert. Er ist in ihr aufgehoben, gefangen. Anders, als im nomadischen Welterleben, ist jedes Eindringen eines Systemfremden eine Bedrohung. Sie kann nur durch Integration oder durch Vernichtung neutralisiert werden.

    Diese Deutung lässt sich im Sinne des „Anarcho-Konservativismus“ ausbauen.
    Hier steht das Verhalten Kains beispielhaft für die ständigen Kämpfe zur Durchsetzung des Arbeitsethos des Taktmenschen. Der Brudermord verliert in diesem Fall seine Bedeutung als Ausdruck der Eitelkeit und des Neides. Er wird zur ethischen Pflicht und zum Ausdruck der Wut des schaffenden Menschen über diejenigen, welche den vorherrschenden, durch den „kainschen“ Arbeitsethos geprägten Moralvorstellungen nicht entsprechen. Doch gerade diese Menschen können sich, nach biblischer Überlieferung, dem besonderen Wohlwollen des jüdisch-christlichen Gottes sicher sein.

    Abel ist in unserer Welt zweifellos tot. Der Kainsethos repräsentiert den positiven und konstruktiven Ansatz, der dafür verantwortlich ist, Menschen über einen längeren Zeitraum und im sich ständig verstärkenden Maße zu disziplinieren und zur gegenseitigen Zusammenarbeit zu bewegen. Der Ackerbauer teilt sich seine Arbeit ein, zieht seinen ganzen Stolz aus seiner Selbstdisziplin. Er erntet reichlich. Man findet diesen Typus Mensch in allen von Spengler beschriebenen Hochkulturen, außerhalb diesen schwächt er sich zur räumlichen und zeitlichen Peripherie zusehens ab. Doch nirgends erscheint er näher an seiner Reinform, als in der faustischen Kultur. So wie die westliche Zivilisation knapp vor ihrem Zinit alle räumlichen Grenzen ihrer Ausdehnung sprengt, so wird Kain und seine Arbeitsethik heute zum übermächtigen globalen Prinzip in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft.

    Natürlich ist [der Takt] nur die eine Hälfte [dessen, was der Mensch ist]. Wer den Gesetzen der Macht fern steht, empfindet oft eine innere Abneigung gegen das, „was unsre Welt im innersten zusammenhält“. Kain soll sterben und Abel wieder auferstehen.

    Spengler sagt, dass der Spannungsmensch, in seinem Wunsch, die Welt, die ihm zu wider ist, zu ändern, es immer nur, gegen seine eigene Intention, zustande bringt, die historisch determinierten Vorgänge der Taktwelt zu beschleunigen.
    Gerade die jüngere Geschichte der faustischen Zivilisation ist voll mit Beispielen gescheiterter Ideologen und Philosophen, die, gerade durch ihre Intention, das System überwinden zu wollen und den Menschen zu befreien, zu einer Zunahme der Sozialdisziplinierung und damit der Versklavung der Menschen beigetragen haben.
    „Darum soll jeder, der Kain erschlägt, siebenfacher Rache verfallen. Darauf machte der Herr dem Kain ein Zeichen, damit ihn keiner erschlage, der ihn finde.“
    Man kann Kain nicht töten.

    Die negative Direktive

    Nichts glauben wollen

    Die Ideologie ist das Schmieröl, der ausnahmslos alles und alle versklavenden Maschinerie, die wir Gesellschaft nennen. Alles, was uns an Allgemeinplätzen, Binsenweisheiten, moralischen Werturteilen, kurz: an halb- und unbewussten, reflexartigen Regungen in die Gesellschaft integriert, ist eine taktvolle Referenz an die herrschenden Verhältnisse. Es wird erspürt, nicht erkannt.

    Nichts glauben zu wollen ist kein Bekenntnis zum Atheismus. In den meisten Fällen ist es sogar das Gegenteil.
    Religiöse Wahrheit ist Spannung. Sie steht, so zumindest im Judentum und Christentum, außerhalb des Treibens der Welt. Sie ist ihr, im Gegenteil, oft entgegengesetzt. Darum verfolgten die römischen Caesaren die ersten Christen und die deutschen Fürsten die Schwärmer.
    Die breiten, taktvollen Straßen, wie die des guten Geschmacks, der Manieren und der moralischen Werte, führen in die Hölle der Sklaverei, mit hündischer Unterwerfung, dem Gefühl der Wertlosigkeit bei Verstoß gegen die Normen, der Selbstzerstörung durch fleißige Arbeit, der Auslöschung des Ichs und wie ihre Kreise sonst noch heißen mögen. Doch das sieht nur das autonome Individuum, der Spannungsmensch so – der Rest will so leben.

    Die Spannungsmenschen unter uns suchen nach erkennbarer Wahrheit. Sie werden an den Tatsachen der herrschenden Ideologie scheitern, wenn sie sich nicht von ihr emanzipieren.
    Als selbstbestimmtes Wesen, als echtes Individuum, kann der Spannungsmensch Ketzer genug sein, sich in seinem Leben nicht von den erspürten Urteilen leiten zu lassen, die für den Rest der Menschen universale Geltung haben müssen.
    Wir alle können die Welt nur durch unsere eigenen Augen betrachten. Doch dazu müssen wir unsere sozialen Reflexe, die uns immer nur zu schnellen Urteilen führen, ausblenden können. Erkenntnis ist individuell – und wertfrei.

    Nichts glauben zu wollen bedeutet zuallererst, den magischen, hypnotischen Charakter des allgemein Gültigen, des Unhinterfragbaren zu erkennen.
    Die Herrschaft des Taktes ist totalitär. Ideologie ist immer heilig. Sich ihr zu verweigern, sie mit den Mitteln der Erkenntnis zu relativieren, ist ein Akt des Tötens, ein Sakrileg. Im besten Fall stößt der spannungsvolle Täter damit auf mitleidiges Unverständnis und ein Kopfschütteln. In jedem Fall kann er die Menschen nicht zu seiner Wahrheit bekehren.

    Nichts erzwingen wollen

    Das Scheitern des Spannungsmenschen in allen Belangen des Taktes ist unumgänglich. Es ist vermessen, sich als vollkommen Fremder auf diesem Terrain Triumphe zu erwarten. Der Spannungsmensch kann nicht verstehen, was die Menschen in Gesellschaft und Politik antreibt und beherrscht; er kann es im besten Fall schemenhaft erkennen. Und wenn dies geschieht, wird er sich mit Ekel abwenden.

    Die wenig tröstliche, halbe Freiheit, die er allen taktvollen Pflanzen mit menschlichem Antlitz voraus hat, beschränkt sich auf den bewussten Verzicht auf Mitarbeit am determinierten Programm der Geschichte.
    Wer Menschen [beherrschen will, um Macht über sie auszuüben,] ist kein Spannungsmensch. Doch wer sich in den Kopf gesetzt hat, seine „Wahrheiten“ in die „Realität“ umzusetzen, gedenkt oft, sich [der Macht] als Werkzeug zu bedienen. Macht ist aber keine Einbahnstraße.
    Der spannungsgetriebene „Herrschaftsaspirant“ wird schnell bemerken, dass in Wahrheit die Umstände ihn beherrschen. Unter solchen Umständen hat er nur die Möglichkeit, sich anzupassen. Er kann nur in die Sphäre des Taktes eintauchen und dadurch selbst zum Sklaven werden. Dort könnte er (wenn er könnte) glücklich werden, aber niemals frei. Seine Wahrheit stirbt und er wird zum Werkzeug des kosmischen Stromes der Geschichte55.

    „Politische Abstinenz“ bedeutet zu aller erst den bewussten Verzicht auf die Droge Macht, die sich, bei genauerer Betrachtung, für beide Seiten, Herrscher wie Beherrschten, als Opium erweist.
    Nichts erzwingen zu wollen ist in Wahrheit der Garant für die Souveränität des Individuums über sich selbst. Also der einzigen Form von Macht, die uns nicht an die Umstände ausliefert und uns dadurch versklavt. Das autonome Sein ist der spannungsvollen Minderheit einzig angemessen.

    Unsere halbe Freiheit bedeutet, dass wir durch einen bewussten Verzicht auf die Teilnahme an politischen und sozialen Prozessen unseren individuellen geistigen Handlungsspielraum ausbauen können. Dadurch wird aber auch unser potenzielles Ausgeliefertsein an die Welt, unsere Verteidigungslosigkeit gegenüber der Geschichte offensichtlich. Wir sind frei im Bewusstsein, im Geiste, bleiben aber gefesselt an die biologischen und sozialen Bedingungen unserer Existenz.

    Sich nicht beherrschen lassen wollen

    Wer sich auf das Spiel der Macht einlässt, wer herrschen will, kommt nicht daran vorbei, sich die Spielregeln dieser Welt zu eigen zu machen. Nur ein „Ja-Sager“ kann mächtig werden. Nur jemand, der sich selbst als Teil des kosmischen Stromes [des Lebens] sieht, der nur will, was er wollen soll, der ein nietzscheanischer Übermensch ist, wird ein glücklicher Herrscher sein. Glücklich ist eine Taktseele nur, wenn sie sich aufgehoben weiß. Wer herrscht, muss dienen.
    Nur durch das „nicht-erzwingen-Wollen“ schaffen wir den eigenen persönlichen Spielraum, uns einer Beherrschung von außen, einer Fremdbeherrschung zu erwehren.

    Spannung ist Autonomie.
    Wir als Spannungsmenschen haben das innere Bedürfnis, abseits der großen Ströme von Macht, Gesellschaft und Ideologie, uns selbst die Richtung zu geben.
    Doch die integralistischen Kräfte des pflanzenhaften Seins innerhalb und durch die Welt, das Leben, nichts anderes bedeutet Takt, sind stark. Sie sind total. Jeder Kontakt, jedes Nachgeben auf eine ihrer Versuchungen, auch jedes aktive Bekämpfen, reißt uns, gleich einem schwarzen Loch, in die Dunkelheit des bewusstlosen sich-aufgehoben-Fühlens. Was dem Takt gefällt, ist der Spannung verhasst.

    Wir können nicht bekehren, man hält uns nämlich für schwach; und für die Welt sind wir es auch.
    Wir dürfen uns nicht ins Leben stürzen, wir würden niemals uns selbst gerecht werden, niemald wir selbst sein.
    Unsere stärkste Waffe ist das „Nein“.
    Das ist der Kern unserer halben Freiheit:
    Niemand kann uns unser Bewusstsein, unsere geistige Autonomie und das „Pfui!“ des Taktes, unsere Individualität nehmen, wenn wir sie nur nicht freiwillig hergeben.
    Ohne Ambitionen: „Nein“.

    Der Phantomschmerz links; mein nicht-lassen-Können von der Revolution

    Als entwurzelte Masse wurde die Industriearbeiterschaft von den Liberalen, [als auch] von den konservativen Eliten gefürchtet. Ihre Unzuverlässigkeit resultierte, neben ihrer miserablen und beklagenswerten ökonomischen Lage, aus ihrem Gefühl des nicht-Dazugehörens zur agrarischen oder bürgerlichen Gesellschaft. Als die Bourgeoisie an der Wende zur spenglerschen „Zivilisation“ langsam ihren Charakter als „Nichtstand“ außerhalb des Takt- oder Machtstandes Adel und des Spannungsstandes Klerus verlor und selbst zum Mittelpunkt des Wirtschaftens und später der Politik wurde, wuchs der schnell anschwellende, ungebundene „Vierte Stand“ in die Rolle eines gesellschaftlichen „Nein-Sagers“ hinein. Durch den widerständigen Aktionismus und ungerichteten Protest der frühen Industriearbeiter wurden die damaligen taktvollen Strukturen erschüttert.

    Der Strom der Geschichte integrierte, mittels seiner spannungsvollen, utopistischen menschlichen Werkzeuge (insbesondere in Gestalt der jakobinischen, etatistischen, später „wissenschaftlichen“ Sozialisten) den unzufriedenen Mob in Staat und Gesellschaft. Dadurch wurde das nihilistische Potenzial der nirgends zugehörigen und [deswegen unideologischen] Massen neutralisiert. Darüber hinaus wurden, durch die Mitarbeit der organisierten (und organisierenden) Arbeiterbewegung in Gesellschaft und Staat, die Arbeiter (später andere „nichtbürgerliche“, aber verbürgerlichte Gruppen, wie Angestellte, Dienstleister, freie Handwerker) zu einer tragenden Säule der Reproduktion von Herrschaft.

    Im Zwanzigsten Jahrhundert setzte sich dieser Trend fort und entwickelte sich zum Phänomen des von Antonio Gramsci so benannten „Fordismus“, einer breiten Integration von Gewerkschaften und Arbeiterparteien in einen, vom kapitalistischen Arbeitsethos als Grundwert bestimmten „Wohlfahrtsstaat“. Die Staatskapitalismen und radikal-Etatismen sowjetischer und faschistischer Prägung sind eine [Unterart] dieses Systems. Doch auch die Gesellschaften, die sich zu den Werten der liberalen Demokratie bekennen, wurden im Zuge der Entwicklungen in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts immer korporationistischer. Durch ihren „sanften“ Integralismus (Unmöglichkeit einer echten Opposition auf Grund systemimmanenter Indifferenz; als bestes Beispiel kann man wohl die positiven Utopisten der 68er-Bewegung benennen, die heute allesamt an der Reproduktion von Herrschaft, oft prominent, beteiligt sind, ohne jemals ihre damaligen Werte verraten zu haben) wird „demokratische“ Herrschaft total.

    Die letzte denkbare „Hefe“, das letzte nihilistische Element, das letzte Gift des Abendlandes in Zeiten der sich langsam vollendenden Zivilisation bildet die inhomogene Gruppe des zuerst durch die Marxisten so genannten „Lumpenproleteriats“.
    Als Sammelbecken für soziale Absteiger, Ausgestoßene, Arbeitsscheue, erfolglose Künstler und Literaten, deklassierte Bourgeoisie (früher deklassierter Adel) und anderer Asozialer, begleitete der „Fünfte Stand“, der letzte Nichtstand, die Geschichte des Abendlandes von Anfang an. Immer mehr Gruppen wurden durch ihr Gesellschaftsfähigwerden aus dieser Gruppe herausgelöst und in den Prozess der Reproduktion von Herrschaft integriert. Nach den ersten Auflösungserscheinungen des „Fordismus“, scheinen die Vertreter der „Hefe“ wieder zahlreicher zu werden.
    Spengler ist der Meinung, dass diese letzten Parias in den Spätzeiten einer Zivilisation den Weg für die Caesaren, die, in unserem „faustischen“ Fall, totalitären Tyrannen über das [untergehende] Abendland bereiten werden. Die wieder sehr zahlreichen [Angehörigen der] städtischen Unterschichten sind vollkommen verelendet und dadurch käuflich. Der Cäsar blendet mit Macht, das schmeichelt der Taktseele des gesamten Volkes, gleichzeitig stillt er den Hunger, das sichert ihm die Zustimmung der Elenden.
    In dieser Situation erfüllt sich die marxsche Prophezeiung vom „Lumpenproletariat“ als der „Reservearmee der Reaktion“ in dem Sinne, als nun alle Menschen einer Zivilisation in die Reproduktion von Herrschaft integriert sind. Eine späte taktvolle Adelung des Pöbels, derer die Idealbilder des ehrbaren Arbeiters der Arbeiterbewegung schon bedeutend früher teilhaftig werden durften. Das unrühmliche Ende allen freien Geistes im Abendland ist determiniert, aber fern. „Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst.“

    Wer sich in unserer Zeit zu seiner Existenz als Spannungsmensch bekennt, wird oft Gelegenheit haben, die Welt des „Fünften Standes“ hautnah zu erleben. Sehr viele Überschneidungen ergeben sich in unseren Biographien mit den Typen des Aussteigers, Arbeitsscheuen [...], gescheiterten Künstlers oder Literaten oder des asozialen Querkopfs. Wir sollten uns nicht abwenden, das wäre nicht aufrichtig, viele von ihnen sind [uns äußerst ähnlich].
    Ihre tendenzielle Ablehnung von Macht und Gesellschaft und ihren Konventionen könnte uns noch in einer Zeitspanne, weit länger als ein Menschenleben, sehr viel Trost spenden. Auch sie sind noch lange „Nein-Sager“. Sie zu beobachten, sich manchmal als einer von ihnen zu fühlen, sie zur Renitenz aufzustacheln, das wäre ein schönes Trostpflaster für unsere Frustrationen in der Welt des Taktes. Nietzsche würde sagen, es wäre – unsere Rache. Der große Taktphilosoph hat recht. Wir sollten uns dafür nicht schämen.

    ❀ ❀ ❀

    ad 1: Dass Spengler dies eins zu eins behauptet habe, wie ihm vereinfachend immer wieder unterstellt wird, halte ich für – gelinde gesagt – fraglich.
    ad 2: In gedrängter Form erscheint dieses Postulat vor allem in der Einleitung seines Hauptwerkes „Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte“; mir vorliegend in der ungekürzten Sonderausgabe in einem Band, erschienen bei C.H. Beck in München 1981 (ab nun kurz „Untergang“ genannt) (genauer S 29-43). Spengler geht in seiner Geschichtsphilosophie von der Unanwendbarkeit unserer, der abendländischen, Wertmaßstäbe auf die Geschichte der Antike aus. Jeder weitere Schluss auf die Unterschiedlichkeit aller Kulturen/Zivilisationen, beruht auf der Problematik der Verschiedenartigkeit von Antike und Abendland und daher auf der Auflösung der Einteilung Antike-Mittelalter-Neuzeit.
    ad 3: Kulturen sind Organismen. Weltgeschichte ist ihre Gesamtbiographie. (Spengler: Untergang; S 140)
    ad 4: Weltgeschichte, Art, Dauer, Protagonisten: Eine unübersehbare Masse menschlicher Wesen, ein uferloser Strom, der aus dunkler Vergangenheit hervortritt, dort, wo unser Zeitgefühl seine ordnende Wirksamkeit verliert und die ruhelose Phantasie – oder Angst – in uns das Bild geologischer Erdperioden hingezaubert hat, um ein nie zu lösendes Rätsel dahinter zu verbergen; ein Strom, der sich in eine ebenso dunkle und zeitlose Zukunft verliert [...]. Der einförmige Wellenschlag zahlloser Generationen bewegt die weite Fläche. Glitzernde Streifen breiten sich aus. Flüchtige Lichter ziehen und tanzen darüber hin, verwirren und trüben den klaren Spiegel, verwandeln sich, blitzen auf und verschwinden. Wir haben sie Geschlechter, Stämme, Völker, Rassen genannt. Sie fassen eine Reihe von Generationen in einem beschränkten Kreise der historischen Oberfläche zusammen. Wenn die gestaltende Kraft in ihnen erlischt – und diese Kraft ist eine sehr verschiedene und bestimmt von vornherein eine sehr verschiedene Dauer und Plastizität dieser Bildungen –, erlöschen auch die physiognomischen, sprachlichen, geistigen Merkmale, und die Erscheinung löst sich wieder in dem Chaos der Generationen auf. Arier, Mongolen, Germanen, Kelten, Parther, Franken, Karthager, Berber, Bantu sind Namen für höchst verschiedenartige Gebilde dieser Ordnung. Über diese Fläche hin aber ziehen die großen Kulturen ihre majestätischen Wellenkreise. Sie tauchen plötzlich auf, verbreiten sich in prachtvollen Linien, glätten sich, verschwinden, und der Spiegel der Flut liegt wieder einsam und schlafend da. (Untergang; S 142 f)
    ad 5: Chronologisch geordnet: die altägyptische, babylonische, indische, chinesische, griechisch-römische (Antike), arabische, mittelamerikanisch-indianische (mexikanische) und die westliche Kultur/Zivilisation.
    ad 6: Vgl. Untergang; S 143.
    ad 7: Am Anfang steht der verzagte, demütige, reine Ausdruck einer eben erwachenden Seele, die noch nach einem Verhältnis zur Welt sucht [...]. Dann folgt der jauchzende Aufschwung in der hohen Gotik [Abendland], der konstantinischen Zeit [arabische Kultur] mit ihren Säulenbasiliken und Kuppelkirchen, und den reliefgeschmückten Tempeln der 5. Dynastie [ägyptische Kultur]. Man begreift das Sein [...]. Aber der Rausch geht zu Ende. Aus der Seele selbst erhebt sich ein Widerspruch. Renaissance, dionysisch-musikalische Feindschaft gegen die apollinische Dorik [Spengler ist ein Schüler Nietzsches, dieser führte in seinem Frühwerk 'Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik' die Idee einer solchen Dialektik für die griechische Kultur ein] [...] bedeuten einen Augenblick der Auflehnung und der versuchten oder erreichten Zerstörung des Erworbenen [...]. Damit tritt das Mannesalter der Stilgeschichte in Erscheinung. Die Kultur wird zum Geist der großen Städte, die jetzt die Landschaft beherrschen; sie durchgeistigt auch den Stil. (Untergang; S 266 f)
    ad 8: Zu der Einordnung einzelner Stile in einzelnen Kulturen vgl. Untergang; S 245-281.
    ad 9: Es ist eine ganz entschiedene und in ihrer vollen Bedeutung nie gewürdigte Tatsache, daß alle großen Kulturen Stadtkulturen sind. Der höhere Mensch des zweiten Zeitalters [d.h. der Kultur/Zivilisation in Abgrenzung zur Urgeschichte] ist ein städtebauendes Tier.[...] Weltgeschichte ist Geschichte des Stadtmenschen. Völker, Staaten, Politik und Religionen, alle Künste, alle Wissenschaften beruhen auf einem Urphänomen menschlichen Daseins: der Stadt. (Untergang; S 661)
    ad 10: Zur Rolle der Stadt in der Kulturphase vgl. Untergang; S 660-666.
    ad 11: Der ursprüngliche Mensch ist ein schweifendes Tier[.] [...] Eine tiefe Wandlung beginnt erst mit dem Ackerbau – denn dies ist etwas Künstliches, wie es Jägern und Hirten durchaus fern liegt: er gräbt und pflügt, will die Natur nicht plündern, sondern abändern. Pflanzen heißt etwas nicht nehmen, sondern erzeugen. Aber damit wird man selbst zur Pflanze, nämlich Bauer [vgl. das Kapitel über den „enttäuschten bibelfesten Utopisten“]. Man wurzelt in den Boden, den man bestellt. Die Seele des Menschen entdeckt eine Seele in der Landschaft; eine neue Erdverbundenheit des Daseins, ein neues Fühlen meldet sich. Die feindliche Natur wird zur Freundin. Die Erde wird zur Mutter Erde. [...] Und als vollkommener Ausdruck dieses Lebensgefühls entsteht überall die sinnbildliche Gestalt des Bauernhauses, das in der Anlage seiner Räume und in jedem Zuge seiner äußeren Form vom Blut der Bewohner redet. [...] Dies ist die Voraussetzung jeder Kultur, die selbst wieder planzenhaft aus ihrer Mutterlandschaft emporwächst und die seelische Verbundenheit des Menschen mit dem Boden noch einmal vertieft. (Untergang; S 660)
    ad 12: Jeder Adel ist ein lebendiges Symbol der Zeit, jede Priesterschaft eins des Raumes. Schicksal und Heilige Kausalität, [...] Rasse und Sprache, Geschlechtsleben und Sinnesleben: das alles kommt darin zum höchstmöglichen Ausdruck. Der Adel lebt in einer Welt von Tatsachen, der Priester in einer Welt von Wahrheiten; jener ist Kenner, dieser Erkenner, jener Täter, dieser Denker. (Untergang; S 971) Dieses Zitat verweist schon auf das mir so wichtige spenglersche Konzept von „Takt und Spannung“ als grundlegend entgegengesetzte Formen des Welterlebens, das im nächsten Kapitel ausführlich und von der Dimension der Urstände entkoppelt besprochen wird.
    ad 13: [Die griechische Kolonisation rund ums Mittelmeer] ist die zeugende Begeisterung der Menschen der Stadt, die seit dem 10. Jahrhundert in der Antike und ‚gleichzeitig‘ in den anderen Kulturen immer neue Geschlechterfolgen in den Bann eines neuen Lebens zwingt, mit dem zum erstenmal inmitten der Menschheitsgeschichte die Idee der Freiheit erscheint. Sie ist nicht politischen und noch viel weniger abstrakten Ursprungs, sondern sie bringt die Tatsache zum Ausdruck, daß innerhalb der Stadtmauern das pflanzenhafte Verbundensein mit dem Lande ein Ende hat und die das ganze Landleben durchsetzenden Bindungen zerrissen sind. [...] Das Bürgertum entsteht erst aus dem grundsätzlichen Widerspruch zwischen Stadt und Land [...]. Der Begriff des dritten Standes, des ‚tiers‘, um das berühmte Wort der französischen Revolution zu gebrauchen, ist eine Einheit lediglich des Widerspruchs und inhaltlich also gar nicht zu bestimmen, ohne eigene Sitte und Symbolik [...]; und der Gedanke, daß das Leben nicht einem praktischen Zweck, sondern vor allem mit seiner ganzen Haltung dem Ausdruck der Symbolik von Zeit und Raum zu dienen habe [, wie bei den beiden Urständen Adel und Priestertum,] und allein dadurch einen hohen Rang in Anspruch nehmen dürfe, reizte gerade die städtische Vernunft zu erbittertem Widerspruch. Diese Vernunft, zu deren Domäne die gesamte politische Literatur der Spätzeit gehört, nimmt eine neue Gruppierung der Stände von der Stadt aus vor, die zunächst Theorie ist, aber durch die Allmacht des Rationalismus endlich Praxis, sogar die blutige Praxis von Revolutionen wird. (Untergang; S 998 ff)
    ad 14: An diesem Punkte, wo die Kultur im Begriff ist, Zivilisation zu werden, greift der Nichtstand [Bürgertum] entscheidend in die Ereignisse ein und zwar zum ersten Male als selbstständige Macht. [...] Das Kennzeichen jeder bürgerlichen Revolution, als deren Ort ausschließlich die große Stadt erscheint, ist der Mangel an Verständnis für die alten Symbole, an deren Platz jetzt handgreifliche Interessen treten, und sei es auch nur der Wunsch begeisterter Denker und Weltverbesserer, ihre Begriffe verwirklicht zu sehen. Wert hat nur noch, was sich vor der Vernunft rechtfertigen lässt [...]. (Untergang; S 1056) Diese Vorgänge werden dann später zum Katalysator der politischen Prozesse der Zivilisationsphase, die im Cäsarismus enden.
    ad 15: Zu den Ständen und dem Nichtstand in der Kulturphase vgl. Untergang; S 970-1004.
    ad 16: Dann erscheinen die leuchtenden Herbsttage des Stils: [...] Hellste Geistigkeit, heitre Urbanität und Wehmut eines Abschiednehmens [...] . Dann erlischt der Stil. Auf ein bis zum äußersten Grade durchgeistigte, zerbrechliche, der Selbstvernichtung nahe Formensprache des Erechtheion und des Dresdner Zwingers folgt ein matter und Greisenhafter Klassizismus, in hellenistischen Großstädten ebenso wie im Byzanz von 900 [für die arabische Kultur] und im Empire des Nordens. Ein Hindämmern in leeren, ererbten, in archaistischer oder eklektischer Weise vorübergehend wieder belebten Formen ist das Ende. Halber Ernst und fragwürdige Echtheit beherrschen das Künstlertum. In diesem Falle befinden wir uns heute. Es ist ein langes Spiel mit toten Formen, an denen man sich die Illusion einer lebendigen Kultur erhalten möchte. (Untergang; S 267 f)
    ad 17: Nur in der Geistigkeit der großen Städte wird der Ausdruckstrieb vom Mitteilungstrieb überwältigt. Daraus entsteht jene Tendenzkunst, die belehren, bekehren und beweisen will (Untergang; S 246, Fußnote)
    ad 18: Diese steinerne Masse [, die Weltstadt,] ist die absolute Stadt. Ihr Bild, wie es sich mit seiner großartigen Schönheit in die Lichtwelt [vgl. hierzu den nietzscheanischen Begriff des Apollinischen‘, insbesondere in der Rezeption Camille Paglias von mir bearbeitet in: www.anarcho.at/nietzsche#1] des menschlichen Auges zeichnet, enthält die ganze erhabene Todessymbolik des endgültig ‚Gewordenen‘ [Dazu ist zu sagen, dass für Spengler die Zivilisation das ‚Gewordene‘ , also das sich bereits Vollendete, das Tote ist]. Der durchseelte Stein gotischer Bauten ist im Verlauf einer tausendjährigen Stilgeschichte endlich zum entseelten Material dieser dämonischen Steinwüste geworden. (Untergang; S 673)
    ad 19: [In jeder späten Kultur erscheint] bald der Typus der Hauptstadt. Es ist, wie der bedeutungsvolle Name sagt, die Stadt, deren Geist mit seinen politischen und wirtschaftlichen Methoden, Zielen und Entscheidungen das Land beherrscht. Das Land mit seinen Bewohnern wird Mittel und Objekt dieses führenden Geistes. Es versteht nicht, um was es sich handelt. Es wird auch nicht gefragt. Die großen Parteien in allen Ländern aller späten Kulturen, die Revolutionen, der Cäsarismus, die Demokratie, das Parlament sind die Form, in welcher der hauptstädtische Geist dem Lande mitteilt, was es zu wollen und wofür es unter Umständen zu sterben hat. Das antike Forum, die abendländische Presse sind durchaus geistige Machtmittel der herrschenden Stadt. [...] Theben ist Ägypten, Rom ist der orbis terrarum, Bagdad ist der Islam, Paris ist Frankreich. (Untergang; S 667 f)
    ad 20: Zur Rolle der Haupt- und Weltstadt in der Zivilisationsphase vgl. Untergang; S 666-687.
    ad 21: Zur antiken Zivilisationsphase: Denn was hat es zu bedeuten – was man nur mit leeren Worten bestreiten kann –, daß die Römer Barbaren gewesen sind, Barbaren, die einem großen Aufschwung nicht vorangehen, sondern ihn beschließen? Seelenlos, unphilosophisch, ohne Kunst, rassehaft bis zum Brutalen, rücksichtslos auf reale Erfolge haltend, stehen sie zwischen der hellenischen Kultur und dem Nichts. [...] Griechische Seele und römischer Intellekt – das ist es. So unterscheidet sich Kultur und Zivilisation. (Untergang; S 44)
    ad 22: Vgl. hierzu Untergang; S 43-54.
    ad 23: Vgl. hierzu vor allem Untergang; S 1120-1144.
    ad 24: Cäsarismus nenne ich die Regierungsart, welche trotz aller staatsrechtlichen Formulierungen in ihrem inneren Wesen wieder gänzlich formlos ist. Es ist gleichgültig, ob Augustus in Rom, Hoang-ti in China, Amosis in Ägypten, Alp Arslan in Bagdad ihre Stellung mit altertümlichen Bezeichnungen umkleiden. Der Geist dieser alten Formen ist tot. Und deshalb sind alle Institutionen, sie mögen noch so peinlich aufrecht erhalten werden, von nun an ohne Sinn und Gewicht. Bedeutung hat nur die ganz persönliche Gewalt [...]. Es ist die Heimkehr aus einer formvollendeten Welt ins Primitive, ins Kosmisch-Geschichtslose. (Untergang; S 1101)
    ad 25: Zu den spenglerschen Gedanken von Cäsarismus, Imperialismus und Weltfrieden vgl. Untergang; S 1101-1107.
    ad 26: Es ist ein ehrwürdiges Vorurteil, das wir endlich überwinden sollten, daß die Antike uns innerlich nahesteht, weil wir vermeintlich ihre Schüler und Nachkommen, weil wir tatsächlich ihre Anbeter waren. (Untergang; S 37)
    Die Termini „faustisch“ (für die abendländische Kultur/Zivilisation) und apollinisch (für die griechisch-römische Antike) beschreiben bei Spengler jeweils zwei völlig konträre Sichtweisen auf das Leben. Immer wieder führt er aus, wie unermesslich fremd und fern uns [...] [die Antike] innerlich ist, fremder vielleicht, als die mexikanischen Götter und die indische Architektur. (Untergang; S 37)
    Das gesamte erste Buch ist ein ein thematisch sehr großes Feld abdeckender Vergleich zwischen den einzelnen Kulturen. Zur unterschiedlichen Weltsicht von antiker und faustischer Kultur/Zivilisation vergleiche: Zahlenverständnisse und Mathematiken: S 84-123; Übersichtstafel auf S 124. Das unterschiedliche Welterleben, sichtbar gemacht an den unterschiedlichen Vorstellungen vom Raum und von der Welt („Raumproblem“, „Ursymbol“): S 225-241. Die Kunst als Ausdruck von unterschiedlichem Welterleben (S 288-380). Sowie die weiteren Kapitel des ersten Buches: „Seelenbild und Lebensgefühl“ und „Faustische und apollinische Naturerkenntnis“ zu Gegensatzbegriffen wie Typus- Persönlichkeit oder Haltung-Charakter für das Drama, oder Haltungs- und Willensmoral und Stoa-Sozialismus zu den unterschiedlichen Vorstellungen von Moral. (S 381-553). Was denn nun an Kulturleistungen und Ausdrucksformen apollinisch, was faustisch ist, findet sich am sprechenden formuliert auf S 234 f.
    ad 27: Man spricht vom Habitus einer Pflanze und meint damit die ihr allein eignende Art der äußern Erscheinung, den Charakter, den Gang, die Dauer ihres Hervortretens in die Lichtwelt unsrer Augen, wodurch sich jede in jedem ihrer Teile und auf jeder Stufe ihres Daseins von den Exemplaren aller andern Gattungen unterscheidet. Ich wende diesen für die Physiognomik wichtigen Begriff auf die großen Organismen der Geschichte an und spreche von dem Habitus indischer, ägyptischer, antiker Kultur, Geschichte oder Geistigkeit. (Untergang; S 146)
    ad 28: So zum Beispiel beschrieben im Vergleich zwischen altägyptischer und chinesischer Kultur (Untergang; S 262).
    ad 29: Vgl. hierzu Untergang; S 840-880; S 241-245; S 268-277.
    ad 30: Die faustische Kultur war [...] im stärkeren Maße auf Ausdehnung gerichtet, sei sie politischer, wirtschaftlicher oder geistiger Natur; sie überwand alle geographisch -stofflichen Schranken; sie suchte ohne jeden praktischen Zweck, nur um des Symbols willen, Nord- und Südpol zu erreichen; sie hat zuletzt die Erdoberfläche in ein einziges Kolonialgebiet und Wirtschaftssystem verwandelt. Was von Meister Eckart bis auf Kant alle Denker wollten, die Welt ‚als Erscheinung‘ den Machtansprüchen des erkennenden Ich unterwerfen, das taten von Otto dem Großen bis auf Napoleon alle Führer. Das Grenzenlose war das eigentliche Ziel [...] und der Imperialismus. (Untergang; S 432)
    ad 31: Vgl. hierzu Spenglers Überlegungen zum „ethischen Sozialismus“ (und mit ihm die Wertschätzung der Arbeit) als „letzte Weltstimmung“ der faustischen Zivilisation (ntergang; S 462-467).
    ad 32: Wo das hehre Ideal aller positiven Utopisten in der Geschichtstheorie Spenglers seinen Platz findet, zeigt folgendes Zitat, betreffend den Zustand der ganz späten Zivilisation mit einem voll ausgeprägten Cäsarismus: Massen werden zertreten in den Kämpfen der Eroberer um Macht und Beute dieser Welt, aber die Überlebenden füllen mit primitiver Fruchtbarkeit die Lücken und dulden weiter. Und während man in den Höhen siegt und unterliegt im ewigen Wechsel, betet man in der Tiefe, betet mit der Frömmigkeit der zweiten Religiosität, die alle Zweifel für immer überwunden hat. Da, in den Seelen ist der Weltfrieden Wirklichkeit geworden, die Seligkeit greiser Mönche und Einsiedler, und da allein. (Untergang; S 1107)
    ad 33: Vgl. hierzu das Kapitel „Zwei Zeitalter: Primitive und höhere Kulturen“ im Zweiten Buch des Untergangs (Untergang; S 593-599).
    ad 34: Betrachte die Blumen am Abend, wenn in der sinkenden Sonne eine nach der anderen sich schließt [...]. Der stumme Wald, die schweigenden Wiesen, jener Busch und diese Ranke regen sich nicht. Der Wind ist es, der mit ihnen spielt. [...] Eine Pflanze ist nichts für sich. Sie bildet einen Teil der Landschaft, in der ein Zufall sie Wurzeln zu fassen zwang. [...] Es steht der einzelnen nicht frei, für sich zu warten, zu wollen oder zu wählen. (Untergang; S 557)
    ad 35: Dieser Takt kosmischer Kreisläufe lebt und webt noch unter jeder Freiheit mikrokosmischer Bewegungen [...] und löst zuweilen die Spannung aller wachen Einzelwesen in einen großen gefühlten Einklang auf. (Untergang; S 559)
    ad 36: Zu Adel, Takt und Geschichte vgl. Untergang; S 973 f.
    ad 37: Eine erdrückende Mehrheit erspürt, muss nicht erdenken: [Die Anschauung des Taktes] ist durch und durch geschichtlich und erkennt alle Rangunterschiede und Vorrechte als tatsächlich und gegeben an. [...] Jeder Mensch hat, sei er Beduine, Samurai oder Korse, Bauer, Arbeiter, Richter oder Räuber, seine eigenen, verpflichtenden Begriffe von Ehre, Treue, Tapferkeit, Rache [...]. Jedes Leben hat Sitte; anders ist es gar nicht zu denken. Schon die Kinder haben sie, wenn sie spielen. Sie wissen sofort und von selbst, was sich schickt. Niemand hat diese Regeln gegeben, aber sie sind da. Sie entstehen ganz unbewußt aus dem ‚Wir‘, das sich durch den einheitlichen Takt des Kreises gebildet hat. (Untergang; S 981 f)
    ad 38: Vgl. Untergang; S 979; S 981; S 983-986.
    ad 39: Vgl. Untergang; S 374 ff.
    ad 40: Hierzu ein Sinnbild für Spenglers Idee von schwachen, freien Individuen und großen, mächtigen Sklaven; eine der schönsten Stellen des Unterganges: Ein Infusor, welches dem menschlichen Auge nicht mehr sichtbar im Wassertropfen ein Dasein führt, das eine Sekunde dauert und dessen Schauplatz ein winziger Winkel dieses Tropfens ist – es ist frei und unabhängig dem gesamten All gegenüber. Die Rieseneiche, an deren Blatt dieser Tropfen hängt, ist es nicht. (S 557 f)
    ad 41: Vgl. Untergang; S 986 ff.
    ad 42: Das vom Empfinden abgezogene Verstehen heißt Denken (Untergang; S 566)
    ad 43: Es gibt nichts Edleres und Reines als die Nachtsitzung des 4. August 1789 und den Schwur im Ballhause oder die Gesinnung in der Frankfurter Paulskirche, wo man man mit der Macht in den Händen so lange über allgemeine Wahrheiten beriet, bis die Mächte der Wirklichkeit sich gesammelt hatten und die Träumer beiseite schoben. (Untergang; S 1131)
    ad 44: Aber wenn der Mensch ein denkendes Wesen ist, so ist er doch weit davon entfernt, ein Wesen zu sein, dessen Dasein im Denken besteht. Das haben die geborenen Grübler nicht unterschieden. Das Ziel des Denkens heißt Wahrheit. Wahrheiten werden [...] aus der lebendigen Unfaßlichkeit [...] in der Form von Begriffen abgezogen, um in einem System, einer Art von geistigem Raum, einen dauernden Ort zu erhalten. Wahrheiten sind absolut und ewig, d.h. Sie haben mit dem Leben nichts mehr zu tun. (Untergang; S 569)
    ad 45: Vgl. Untergang; S 1127-1132.
    ad 46: Lk. 16;8.
    ad 47: Joh. 18;38.
    ad 48: Die wohl schärfste Definition von Takt und Spannung findet sich im Kapitel über Jesus (SS 814-823) im Untergang: In der berühmten Frage des römischen Prokurators: Was ist Wahrheit? - das einzige Wort im Neuen Testament, das Rasse hat – liegt der ganze Sinn der Geschichte, die Alleingeltung der Tat, der Rang des Staates, des Krieges, des Blutes, die ganze Allmacht des Erfolges und der Stolz auf ein großes Geschick. Darauf hat nicht der Mund, aber das schweigende Gefühl Jesu mit der anderen, über alles Religiöse [ also über das Urbild der Spannung] entscheidenden Frage geantwortet: Was ist Wirklichkeit? Für Pilatus war sie alles, für ihn selbst nichts. [...] Mein Reich ist nicht von dieser Welt – das ist das letzte Wort, von dem sich nichts abdeuten läßt und an dem jeder ermessen muß, wohin Geburt und Natur ihn gewiesen haben. Ein Dasein, das sich des Wachseins bedient, oder ein Wachsein, welches das Dasein unterwirft. Takt oder Spannung, Blut oder Geist, Geschichte oder Natur, Politik oder Religion [...]. Der geborene Politiker verachtet die weltfremden Betrachtungsweisen des Ideologen und Ethikers mitten in seiner Tatsachenwelt – er hat recht. Für den Gläubigen sind aller Ehrgeiz und Erfolg der geschichtlichen Welt sündhaft und ohne ewigen Wert – er hat auch recht. (SS 820f)
    ad 49: Vgl. hierzu Untergang; (S 892 f).
    ad 50: Gen. 1;1-2;4a.
    ad 51: Gen. 2;4b-25.
    ad 52: Gen. Kap. 3.
    ad 53: Hier stand ein dummer Spruch.
    ad 54: Gen 4;1-16.
    ad 55: Hierzu Spengler in der Einleitung des Unterganges mit gewohnter rhetorischer Schärfe: Gebrauchen wir das bedenkliche Wort Freiheit, so steht es uns [, nachdem wir Spenglers Ideen teilen,] nicht mehr frei, dieses oder jenes zu verwirklichen, sondern das Notwendige oder nichts. Dies als „gut“ zu empfinden, kennzeichnet den Taktmenschen. Es bedauern und tadeln, heißt aber nicht es ändern zu können. [...] Man kann das bedauern und dies Bedauern in eine pessimistische Philosophie und Lyrik kleiden – und man wird das künftig tun –, aber man kann es nicht ändern. (Untergang; S 55)

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    Wär's wurst, wär's mir lieber

    Hätte man mich vor einer Woche gefragt, ob es möglich wäre, dass eine Dragqueen nicht nur eine Arschloch-Veranstaltung wie den Eurovisionssongcontest gewinnt, sondern nach ihrer Rückkehr von den Massen gefeiert, von den Großen der Republik (mit ihren berufsbedingten Rücksichten auf die Massen) hofiert und – am ärgsten – von der Krone bejubelt wird, so wäre ich wohl – gelinde gesagt – nicht ganz davon überzeugt gewesen...
    Man soll ruhig weiterlesen, ab dieser Stelle im Artikel gibt es kein weiteres Österreich-Bashing mehr.

    Conchita Wurst ist eine Gestalt, die das gattungsmäßig Gegebene, das rohe Sexuelle, partiell durch eine Maske der Sexualität (Paglia), durch ein im ursprünglichsten Sinne willkürliches Herausschälen von Form und Gestalt aus dem Ungesonderten zu überwinden trachtet. Sie ist eine wahre Kunstfigur.
    Fraglich bleibt jedoch, ob sie im momentanen Trubel als Kunst-figur, oder als etwas anderes wahrgenommen, beurteilt und in den gesellschaftlichen und politischen Konflikten „verwurstet“ wird.
    Man wird dem letzten Satz entnehmen können, dass ich erstens von zweiterem überzeugt bin und dass ich die Verwurstung einer Kunstfigur zweitens ablehne. Im Wort verwursten steckt – neben dem mäßig guten Wortwitz – auch schon die inhaltliche Behauptung, dass sich die mühsam aus dem Ungesonderten herausgeschälte Gestalt der Kunstfigur wieder im Ungesonderten verliert, sich auflöst, wenn sie allzusehr in Berührung mit Fragen der gesellschaftlichen „Norm“ kommt.
    Das Wort Norm steht im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Prozessen deswegen in Anführungszeichen, weil das menschliche Zusammenleben mitsamt seinen unausgesprochenen – und unaussprechbaren – unterirdischen Kräften, die es chaotisch zugleich verwirren und leiten, der Gattung, dem Ungesonderten – und nicht der Ordnung des Gesetzes, das sich anschickt, es zu formen – anhängt. Die gesellschaftlche „Norm“ ist der Masseninstinkt der Herde; sie ist das gattungsmäßige Totbeißen des Anderen, sie folgt keinem Gesetz, auch keiner Gesetzmäßigkeit. Sie ist die stets sich in Bewegung befindliche unbeständige und zufällige Welle an der Oberfläche der Wasser des Lebens.

    Wir durften in den letzten Wochen und Monaten erleben, wie diejenigen in unserem Lande, die sich für die Verteidiger individueller Freiheitsrechte halten, den Grad der gesellschaftlichen Zustimmung zum sogenannten „Lebensstil“ Conchitas – als wäre der wirkliche, lebendige Thomas Neuwirth ident mit der apollinischen Göttin (oder von mir aus auch „Götzin“) Frau Wurst – zum Indikator menschlicher Freiheit innerhalb unserer Gesellschaft machten. Doch damit machen sie sich – wohl gegen ihre Intention – zu Komplizen der übermächtigen Lebenskräfte, gegen die alle apollinischen Versuche der Schaffung von von der Wirklichkeit abgegrenzten, dem Werden entzogenen Künstlichkeiten ein Aufstand sind.
    Nichts ist gewonnen für das Mensch-Sein, das einer Kunstfigur oftmals ebenso wie des Bauens von Gebäuden, die der Wirklichkeit der Natur trotzen und des Errichtens von mythischen, religiösen und wissenschaftlichem Systemen, die sich gegen das Chaos und die Sinnlosigkeit der Welt auflehnen, bedarf, wenn die Grenzen des gesellschaftlich Opportunen – wie weit auch immer – ausgedehnt werden. Die Ausdehung der gesellschaftlichen „Norm“ kann auf Grund des Gattungscharakters eben dieser Norm kein Indikator für menschliche Freiheit sein, die nur im Aufstand gegen die Gattung und nur als Anspruch, niemals als Wirklichkeit, sein kann.

    Die Kultur in ihrer Funktion als Bollwerk gegen jenes oben erwähnte gattungsmäßige Totbeißen ist hier angesprochen. Individuelle Freiheitsrechte sind Teil dieses Bollwerks; sie haben den Anspruch, den Anderen – das ist immer: den Einzelnen – der unmittelbaren Wirkmächtigkeit der Urteile der Gleichen – das ist immer: der Mehrheit – zu entziehen.
    Man muss Existenz und Habitus Conchitas nicht – wie der Journalist Matthias Matussek in einem anderen Zusammenhang, die selbstgerechten Pädagogen-Flachköpfe so treffend parodierend, gemeint hat – normaaaal finden, um ein wahrer Verteidiger menschlicher Freiheit zu sein. Im Gegenteil unterscheidet sich der Kampf um die Etablierung einer neuen gesellschaftlichen „Norm“ nicht wesentlich von der aggressiven und teilweise menschenverachtenden Ablehnung Conchitas durch Teile der Gesellschaft, die eben noch nicht für die neue Normaaaalität gewonnen sind: Unter der Oberfläche der jeweiligen Idee von Normalität stellt man hüben wie drüben die selbe Frage. Sie lautet: Wer darf, wer darf nicht sein?

    Jemand aus meinem näheren Umkreis ist der Auffassung – die ich, man wird es bis zu diesem Abschnitt des Artikels wohl schon gemerkt haben, ganz und gar nicht teile – dass es sich bei dem momentanen Hype um Conchita um ein Symptom einer gesellschaftlichen Fehlentwicklung handelt. Er hatte die Absicht, diese vermeintliche Fehlentwicklung zu parodieren, indem er eine Facebook-Gruppe gründete, die unter Verweis auf den momentanen Umbruch der gesellschaftlichen „Norm“ durch den Sieg Frau Wursts beim ESC für „Toleranz“ – gemeint ist selbstredend gesellschaftliche Akzeptanz und Zustimmung; ein grundsätzlicher Etikettenschwindel, der auch die Diskussion um Conchita bestimmte und den ich in diesem Artikel zu problematisieren suchte – für Zoophile warb.
    Insofern seine Provokation die grundsätzliche Auflösung gesellschaftlicher „Normen“ zeigen wollte, darf sein Projekt als gescheitert gelten: Die wüsten Beschimpfungen und Drohungen gegen ihn und alle, die sich ein bisschen durch die Gruppe trollten (wie es zum Beispiel auch ich tat), zeigten, dass trotz des angeblichen in Conchita sich manifestierenden Untergangs des Abendlandes die Mechanismen des gattungsmäßigen Totbeißens des Fremden noch hervorragend funktionieren. Mach dir also keine Sorgen, mein lieber Freund, der du diese Gruppe gegründet hast...
    Die Thematik der Gruppe war allerdings gut gewählt: Das Liebkind der Gattung, der Barbar, der Adelige von Ohngefähr (Nietzsche), das Alphatier liebt edle Tiere. Mensch-Sein hat für ihn einen kleineren Wert, als für denjenigen, der der Kultur, sei es auch in Gestalt einer Kunstfigur, bedarf.
    Zu gern hätte ich auf die Gruppe verwiesen; leider wurde sie jedoch von Facebook gelöscht. Die besten Schmankerln des Pogrombedürfnisses der Gleichen gegen die Anderen habe ich allerdings noch sichern können. Man werfe einen Blick auf die Bildergalerie zu diesem Artikel.

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    ζωή

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    Bei dem nachfolgenden Text handelt es sich um das zentrale erstes Kapitel aus dem die Gedankenwelt des Predigtdienstes erläuternden Essay „Widerspruch Mensch“.

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    Das ‚zur Erde Gehörige‘, [...] das Dionysische ist kein Frühstück im Freien; es geht vielmehr um die chthonischen Realitäten, denen Apollon ausweicht: das blinde Mahlen der unterirdischen Gewalten, den endlosen, langsamen Sog, Schlamm und Morast. Es ist die unmenschliche Grausamkeit der Biologie und Geologie, die Darwinsche Verschwendung und Blutrünstigkeit, der Schmutz und die Fäulnis [...].

    Camille Paglia, Masken der Sexualität, S 17; einführendes Essay

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    Die Annahme einer Sonderstellung des Menschen innerhalb alles Lebendigen, vor allem aber innerhalb des Tierreiches, so sehr sie sowohl unserer Intuition entspricht, als auch in der philosophischen Tradition verankert ist, scheint heute mehr denn je fragwürdig geworden zu sein. Den naturwissenschaftlichen Disziplinen der Evolutionsbiologie und der Verhaltensforschung kam hierbei in der jüngeren Vergangenheit die Rolle einer Avantgarde zu, deren Ergebnisse auch seitens der Philosophie aufgegriffen wurden.
    Einer der bekannteren Vertreter der neuen, revisionistischen Sicht auf die wesentlichen Unterschiede zwischen Mensch und höheren Tieren ist der australische Philosoph Peter Singer, der hinsichtlich oben erwähnter Intuition und philosophischen Tradition von „Speziesismus“, also von einer ideologiebehafteten, vernunftwidrigen und egoistischen Bevorzugung der Spezies Mensch spricht. Ausgehend hiervon forderte er nicht nur eine Kodifizierung von Tierrechten (die der australische Staat vor einigen Jahren auch tatsächlich teilweise leistete), sondern kritisierte auch das Konzept von unveräußerlichen und absoluten Menschenrechten, die den Menschen eben auf Grund ihres Mensch-Seins zukommen würden und daher Ausfluss des von ihm angeprangerten Speziesismus wären.

    Abseits solcher extremer Positionen verweist jedoch schon die von praktisch allen philosophischen Systemen als notwendig erachtete Denkarbeit rund um das Wesen des Menschen, die nichts anderes als die Begründung seiner Sonderstellung darstellt, auf die grundsätzliche Fragwürdigkeit des Konzeptes eben dieser Sonderstellung. Es verhält sich hier ganz wie bei den empathischen Formulierungen von Präambeln zu Friedensverträgen, deren Zweck eben nicht die Befestigung der beschriebenen virtuellen paradiesischen, sondern die Beseitigung der nicht erwünschten, jedoch empirischen Zustände ist.

    Um Vorschläge zum Wesen einer wie auch immer gearteten Sonderstellung des Menschen innerhalb alles Lebendigen begründen zu können, soll zunächst an dieser Stelle eine kurze Übersicht der Gemeinsamkeiten zwischen der menschlichen Gattung und entweder allen Gattungen, oder einer Klasse von Gattungen gegeben werden. Eigenschaften der menschlichen Gattung, die auf eine dieser Gemeinsamkeiten zurückzuführen sind, können in Folge bei unseren Vorschlägen vernachlässigt werden.

    Die augenfälligste Äußerung der Zugehörigkeit des Menschen zur Gesamtheit alles Lebendigen ist der Zwang zur Reproduktion in all ihren Erscheinungsformen, dem er unterworfen ist.

    Dies beinhaltet zunächst die Notwendigkeit in regelmäßigen Abständen zu essen, zu trinken und zu schlafen, um sich selbst als Individuum, d.h. als zufällige Emanation der menschlichen Gattung, die wiederum nur eine zufällige Emanation des Lebens ist, für einen längeren Zeitraum des individuellen Sterbens zu enthalten.
    Hierbei ist die Aneignung von außerhalb des tätigen Individuums existierender Materie im Allgemeinen, im Besonderen aber die Vernichtung fremder konkreter Emanationen des Lebens und die Auflösung ihrer Form zum Zwecke des Einbaus ihrer Bestandteile in das System des tätigen Individuums das Charakteristikum des Essens und Trinkens. Es handelt sich bei diesen in der Regel mit Lust verbundenen Tätigkeiten um die spezifisch menschliche (und sprachlich einseitig auf den Menschen als Konsumenten reduzierte) Spielart des Lebensprinzips des „Fressen-und-Gefressen-werdens“, das allem Lebendigen in seinen beiden Gestalten als Zwang auferlegt ist. Lust ist einer der bevorzugten Hebel des Lebens, das ihm Zugehörige zu zwingen. Die sprachliche Einseitigkeit der Begriffe „Essen“ und „Trinken“ (die – so viel sei vorab verraten – in der Sphäre des Mensch-Seins ihren Ursprung hat, die nicht durch die Verbundenheit mit allem Lebendigen charakterisiert ist) maskiert hinsichtlich jenes Lebensprinzips das Ausgeliefertsein des Menschen auch an seine passive, an seine erleidende und leidvolle Seite: auch die Vernichtung der menschlichen Einzelemanation des Lebens ist gekoppelt an die lustvolle Auflösung ihrer Form zum Zwecke der Einverleibung ihrer Bestandteile in eine andere konkrete Emanation des Lebens. Elementarer noch maskiert die Lust selbst das Wesen der soeben besprochenen speziellen Form der Reproduktion: Es scheint dem Essenden die in der Tätigkeit des Essens sich äußernde Reproduktion eine Reproduktion nur des Essenden, also eine besondere, individuelle zu sein. Essen scheint der Stabilisierung und Perpetuierung des einzelnen „Lebens“ des Essenden zu dienen; nicht zuletzt besteht hierin sein Lustmoment. Doch das ist Täuschung: die vermeintliche Sicherung des einzelnen „Lebens“ befeuert vielmehr den ständigen Kreislauf der Vernichtung der einzelnen Individuen. Das Leben selbst, das in eben diesem Kreislauf wesentlich besteht, reproduziert sich in der Tätigkeit des Essens auf Kosten der konkreten Individuen.

    Zum Zwecke der Reproduktion ist es ebenso unerlässlich regelmäßig zu schlafen wie zu essen und zu trinken. Die konkrete Emanation der Gattung Mensch tritt im Schlaf aus ihrer prekären, ihrer fragwürdigen, nur durch ihr Selbst-Bewusstsein und der Annahme anderer, dem eigenen Selbst gleichartigen Selbste in den anderen Einzelindividuen bedingten Wachheit zurück in das bewusstlose und blinde Wollen des Lebens. Im Schlafenden träumt das Leben, nicht das Selbst-Bewusstsein des Einzelnen. Der Traum folgt nicht den Regeln, die sich der Einzelne unter Voraussetzung seiner Wachheit zurechtlegt, um das chaotische Wirken des Lebens zu bannen. Nicht die Wachheit, sondern der Schlaf ist die Voraussetzung für das kurz- und mittelfristige Überleben der konkreten Emanation des Lebens; denn: wer zwar isst, doch niemals schläft, stirbt, wer aber schläft und dabei mit Nahrung versorgt wird, stirbt nicht unmittelbar. Setzt man – wie es soeben geschah – die Wachheit des Selbst-Bewusstseins des konkreten Individuums – die in dieser Form nur den Menschen eignet – als nicht durch das Leben erzwungen und nur dem Individuum zugehörig und damit nicht als wesentlich, die Bewusstlosigkeit des Schlafes aber als wesentlich für das Leben und für den Zwang, dem seine Emanationen unterworfen sind, so folgt daraus, dass im Schlaf nicht wesentlich das konkrete Individuum, sondern das Leben selbst reproduziert wird. Das Leben zwingt die konkrete Emanation der Menschengattung aus der Wachheit des Selbst-Bewusstseins hinab zu tauchen in die Bewusstlosigkeit des Schlafes. Wiederum ist es in den allermeisten Fällen lustvoll, diesem Zwang unterworfen zu sein: muss man schlafen, will man schlafen. Ganz in Analogie zum „Fressen-und-Gefressen-werden“ liegt das Wesen der Reproduktion des Lebens durch Schlaf in der Auflösung des wachen Selbst-Bewusstseins des konkreten Individuums, damit aber in seiner Vernichtung. Denn: Im wachen Selbst-Bewusstsein „formt sich“ das Individuum in ähnlicher Weise als etwas Besonderes, Vereinzeltes aus, wie es dies durch seine materielle Gestalt in jenem Zusammenhang tut.

    Fällt das Schlagwort von der „Reproduktion“, so kommen uns zuerst nicht etwa die oben besprochenen Tätigkeiten des Essens und Schlafens in den Sinn, die scheinbar der Sicherung der Existenz des konkreten Individuums dienen. Der Begriff „Reproduktion des Lebens“ ist für uns intuitiv mit dem Bereich der Geschlechtlichkeit verbunden, deren Bedingung ganz offensichtlich außerhalb der Existenz des einzelnen Individuums liegt. Damit aber wird mit Blick auf den Bereich der Geschlechtlichkeit das Primat der Gattung vor ihrer konkreten Emanation in der Sphäre des Mensch-Seins, in der der Mensch mit allem anderen Lebendigen verbunden und gleichrangig ist, im Vergleich zu den Tätigkeiten des Essens und Trinkens und des Schlafens für uns klarer ersichtlich. Die Auslöschung der konkreten Emanation des Lebens zu Gunsten des Lebens selbst kommt innerhalb des Bereiches der Geschlechtlichkeit auf zweierlei Weisen zum Ausdruck:
    Erstens reproduziert der Geschlechtsakt (insofern er seinen gattungsmäßigen Zweck verwirklicht, der in der Befruchtung der Eizelle liegt) niemals die konkrete Form, die das Leben in den beiden tätigen Individuen angenommen hat, sondern löscht im Gegenteil die beiden jeweiligen konkreten Formen durch die Vermischung der Erbeigenschaften in der Konkretisierung des durch den Geschlechtsakt neu entstehenden Individuums aus. Ausgehend von der Auflösung der zufälligen Formen der beiden Elternteile in ihre Einzelbestandteile etabliert das Leben aus diesen Einzelbestandteilen eine neue zufällige Form, ein neues konkretes Individuum. In diesem Sinne bedient sich die Reproduktion der Gattung qua Geschlechtlichkeit ähnlichen Mitteln zur Vernichtung der konkreten Emanation des Lebens wie die oben besprochene Reproduktion durch „Fressen-und-Gefressen-werden“.
    Zweitens erscheint uns intuitiv die Partnerwahl aus opportunistischen, d.h. auf den jeweiligen konkreten, berechenbaren, qua wachem Selbst-Bewusstsein erkennbaren Vorteil des einzelnen Individuums ausgerichteten Gründen, als dem eigentlichen Kern der sexuellen Anziehung entgegengesetzt und diesen überlagernd und verfälschend. In der sexuellen Anziehung, die innerhalb der Geschlechtlichkeit das für alle Ausformungen der Reproduktion charakteristische Lust- und Zwangsmoment wesentlich mitkonstituiert, tritt das Selbst-Bewusstsein des konkreten Individuums zu Gunsten der Bewusstlosigkeit der nur schwer in Begriffe zu fassenden Selektionsmechanismen der Gattung zurück. Nur über die Bewusstlosigkeit der sexuellen Anziehung reproduziert sich die Gattung hinsichtlich der Geschlechtlichkeit wesentlich. Insofern das wache Selbst-Bewusstsein nur dem konkreten Individuum eignet, stellt die gattungsmäßige Überwindung des wachen Selbst-Bewusstseins durch die sexuelle Anziehung eine weitere Spielart der Vernichtung des konkreten Individuums durch die Gattung dar, die sich hinsichtlich ihres Charakters mit der oben für den Schlaf postulierten überschneidet.

    Abseits des Zwanges zur Reproduktion, dem die konkrete Emanation der Gattung Mensch ebenso unterworfen ist wie überhaupt alles Lebendige in der Welt, gibt es einen zweiten großen Bereich des Zwingens der konkreten Individuen durch die Gattung, der sich nicht auf alles Lebendige erstreckt, jedoch auch keineswegs exklusiv auf die Emanationen der menschlichen Gattung beschränkt ist: Es handelt sich um die gattungsmäßige Festlegung des konkreten Individuums auf eine Gruppe von Artgenossen. Diesem Zwang sind alle sozialen Arten unterworfen. Um den nicht exklusiv menschlichen Charakter der besagten Gruppe zu betonen, möchte ich sie als „Hive“ bezeichnen.
    Soziale Lebensweise ist nach gängiger Auffassung eine „Strategie“ einer spezifischen Gattung zur Steigerung ihrer Überlebenschancen innerhalb des steten Werden und Vergehens des Lebens. Hive-bildende Arten verwirklichen Beziehungen zwischen ihren jeweiligen konkreten Individuen zum Zwecke der Effizienzsteigerung der oben behandelten Formen der Reproduktion einer spezifischen Gattung. Anders ausgedrückt dient der Hive der Optimierung der Vernichtung der einzelnen Emanation des Lebens und ihrer konkreten und zufälligen Form. Der Hive ist also nur eine Funktion der spezifischen Gattung, die wiederum nur eine Funktion und zufällige Ausformung der Gattung schlechthin und damit des Lebens ist. Daraus wird ersichtlich, dass das Verhältnis des konkreten Individuums zum Hive sich nicht wesentlich vom seinem Verhältnis zum Leben selbst unterscheidet. Vielmehr ist der Hive als Statthalter des Lebens im Umfeld des konkreten Individuums aufzufassen.

    Der Hive entfaltet hauptsächlich zwei ineinander verwobene Wirkungsweisen denen die jeweiligen konkreten Individuen die in ihm leben ausgesetzt sind:
    Die erste, die oben beschriebene Funktion des Hive direkt widerspiegelnde Wirkungsweise ist die der Ausschaltung der konkreten Individuen innerhalb der Gruppe, die der Reproduktion der spezifischen Gattung, damit aber der Reproduktion der Gattung schlechthin abträglich sind. Diese Ausschaltung nimmt ganz unterschiedliche konkrete Formen an, die vom Ausschluss von der Fortpflanzung über die Verdrängung von den Nahrungsquellen bis zur unmittelbaren Tötung reichen. (Mechanismen, die innerhalb des Zusammenlebens von Individuen der spezifischen Gattung Mensch die soeben beschriebenen Härten des Lebens in der Gruppe für den Einzelnen zu entschärfen suchen, fußen auf der Vorstellung eines metaphysisch-axiomatischen Wertes des konkreten Individuums an sich und sind daher der in diesem Kapitel thematisierten gattungsmäßigen Sphäre des Mensch-Seins, das durch die Vernichtung der zufälligen konkreten Form des Lebens in Gestalt des einzelnen Individuums zu Gunsten der ständigen Reproduktion eben dieses Lebens in seiner Totalität charakterisiert ist, diametral entgegengesetzt; sie verweisen bereits auf die Sphäre des Mensch-Seins, die ihn von allem anderen Lebendigen absetzt.) Gesetzt den Fall, dass das konkrete Individuum an dieser ersten Wirkungsweise nicht als Erleidender, sondern als Tätiger beteiligt ist, erscheint ihm die Beseitigung des Erleidenden als eine Erleichterung der Sicherung des eigenen, ständig in Frage gestellten Überlebens. Doch durch die Ausschaltung des erleidenden konkreten Individuums reproduziert sich wesentlich und langfristig ausschließlich die Gattung und nur scheinbar das tätige Individuum: der Grad der Nützlichkeit des Einzelnen für die Gattung ändert sich beständig und die Täter von heute sind, sei es durch Krankheit, sei es durch Alter, die Erleidenden von morgen. Durch seine Wechselseitigkeit und seine Permanenz bedingt kann dieser Teilaspekt der spezifisch sozialen Vernichtung der zufälligen Form der konkreten Emanation des Lebens damit in Analogie zur weiter oben beschriebenen Lebensäußerung des „Fressen-und-Gefressen-werdens“ gesetzt werden. Aus diesem Grund, wie auch auf Grund der Einprägsamkeit des sprachlichen Bildes möchte ich die soeben beschriebene erste Wirkungsweise des Hive als „Totbeißen“ bezeichnen.

    Steht das Totbeißen dem „Fressen-und-Gefressen-werden“ nahe, kann die zweite Wirkungsweise des Hive, die auch den üblichen Hebel des gattungsmäßigen Zwanges, nämlich die Lust, beinhaltet, in Analogie zum Schlaf gesetzt werden: Vor und im Tätigwerden im Sinne des Totbeißens vermittelt sich ein Gefühl der Empörung bzw. höherer und absoluter – im Falle des Menschen potenziell quasi „göttlicher“ – Rechtfertigung über die Dynamik des Hive an die Täter. Das tätige konkrete Individuum zieht aus der Vernichtung des Erleidenden qua seiner dabei empfundenen höheren Rechtfertigung Lust und es löscht, sofern es der menschlichen Gattung angehört, sein Selbst-Bewusstsein, seine geistige zufällige „Form“ im Hive auf und sinkt in die Bewusstlosigkeit der Gattung – wie dies auch in ähnlicher Weise im Schlaf geschieht. Das Totbeißen, das Zerreißen des Erleidenden ist dem sinnlos-blinden Wollen des Lebens, ist der Erde geweiht und wird durch sie gerechtfertigt. Eingängig versinnbildlicht wird diese höhere Weihe des Totbeißens durch die antike Überlieferung des Dionysoskultes der Mänaden. Die Repräsentativität dieses Kultes und der mit ihm verbundenen Vorstellungen für die soeben beschriebene zweite Wirkungsweise des Hive aufgreifend, möchte ich sie als „Rausch“ bezeichnen.
    Das Phänomen des Zusammenwirkens von Lust und absoluter – im Falle des Menschen moralischer – Rechtfertigung in der kollektiven Vernichtung des Erleidenden ist der Schlüssel zum Verständnis des Kerns eines Großteils der sozialen Interaktionen zwischen Individuen der menschlichen Gattung, auch wenn diese Interaktionen in unterschiedlichem Ausmaß von der weiter oben erwähnten Vorstellung eines metaphysisch-axiomatischen Wertes des einzelnen Individuums an sich verwässert erscheinen.

    Nach dieser kurzen Auflistung von Gemeinsamkeiten der menschlichen Gattung mit entweder allen anderen Gattungen oder einer Klasse von Gattungen, gilt es nun, gewisse gattungsmäßige Eigenschaften aufzulisten, die dem Menschen zwar zum Teil möglicherweise nicht ausschließlich, jedoch unserer Intuition nach zumindest graduell im höheren Maße eignen als anderen Gattungen. Es handelt sich hierbei um Eigenschaften, die wesentlich dem einzelnen Individuum angehören. Sie alle setzen in unterschiedlichen Graden ein Bewusstsein der eigenen, nicht mit dem Leben schlechthin identen Sonderexistenz voraus. Nochmals: Sie eignen dem konkreten Individuum, seiner zufälligen materiellen Form und seiner zufälligen geistigen „Form“, also seinem Bewusstsein; d.h. sie stehen in einem gewissen, später näher zu bezeichnenden Gegensatz zu den oben erwähnten Spielarten der direkten und indirekten Reproduktion des Lebens qua Vernichtung seiner konkreten Emanationen. Wenn sich Vorschläge zur Sonderstellung des Menschen auf der Basis dieser Eigenschaften auf Grund ihres mutmaßlich nicht exklusiv menschlichen Charakters auch nicht als brauchbar erweisen, so ergibt sich dennoch aus der Verbindung dieser Eigenschaften und jener, eben besprochener gattungsmäßigen Gemeinsamkeiten und ihrer beider Wirkungsweise auf das einzelne Individuum der menschlichen Gattung, sowie aus der Reaktion dieses Individuums auf eben jene Wirkungsweisen eine tragfähige Basis für die angestrebte Festlegung eines das Mensch-Sein exklusiv konstituierenden Elements.

    Die fraglichen, wesentlich am Individuum klebenden gattungsmäßigen Elemente nehmen, es wurde bereits gesagt, allesamt ihren Ausgang vom Bewusstsein des einzelnen Individuums. Sie stellen unterschiedliche Erscheinungsformen der Bezugnahme des Bewusstseins auf je unterschiedliche gattungsmäßige Zwänge dar, denen die konkrete Emanation des Lebens ausgeliefert ist. Alle diese Erscheinungsformen nehmen also ihren Ausgang vom Bewusstsein, das heißt vom konkreten Individuum. Obwohl sie der Gattung zugehörig sind, stehen sie durch ihre Bedingtheit durch das konkrete Individuum dem primären Wesen der Gattung, das als in der Vernichtung der Einzelexistenzen zu Gunsten des Lebens selbst liegend beschrieben wurde, entgegen: Das den Wirkungsweisen des Fressen-und-Gefressen-werdens oder des Totbeißens als Erleidender ausgesetzte konkrete Individuum fürchtet sich und wird sich (im höchst unterschiedlichen Ausmaß) seiner individuellen Unzulänglichkeiten bewusst. Schließlich sucht es seine individuelle Integrität in ihren verschiedensten Ausprägungen zu erhalten. Gelingt ihm dies ganz oder teilweise, so wird sein zukünftiges Handeln im unterschiedlichen Ausmaß durch seine Erinnerung an die eigene Unzulänglichkeit und Furcht und durch einen Bruch im Vertrauen auf die Gattung mitgeprägt. Es sieht sich einem übermächtigen, unbezwingbaren Feind gegenüber; es entwickelt ein Ressentiment gegen das Leben. Sein Ziel wird es, Sand in das Getriebe der Reproduktion zu streuen. Im Sinne der Gattung handelt es sich bei den dem konkreten Individuum und seinem Bewusstsein zugehörigen Erscheinungen also nicht nur um eine Abweichung vom Prinzip der Gattung und des Lebens, d.h. um Entartungen, um Phänomene der Dekadenz, sondern um den Versuch einer regelrechten Umkehrung dieses Prinzips: die Reproduktion soll zu Gunsten der Integrität des konkreten Individuums in den Hintergrund treten.

    Insofern das einzelne Individuum als Erleidender der Wirkungsweise des Fressens-und-Gefressen-werdens als direktester und allgemeinster Ausprägung des gattungsmäßigen Zwanges zur Reproduktion ausgesetzt ist, reagiert es auf diese Infragestellung seiner Integrität mit der Form der individuellen Bezugnahme auf den Zwang zur Reproduktion, die man als „Selbsterhaltungstrieb“ bezeichnet. Dem allgemeinen und allumfassenden Charakter des Fressens-und-Gefressen-werdens, das an den primitivsten, wie auch an den komplexesten Lebensformen seine volle Wirkung entfaltet, entspricht der ebenfalls allgemeine Charakter des Selbsterhaltungstriebs. Aus eben dieser Allgemeinheit leitet sich die gängige Auffassung her, die in ihm ein grundlegendes, primäres Charakteristikum alles Lebendigen erblickt. Innerhalb unserer Überlegungen ist er hingegen eine sekundäre, den primären Lebensäußerungen entgegengesetzte Reaktion des einzelnen Individuums auf seine Infragestellung durch das Leben. Bei aller Allgemeinheit des Selbsterhaltungstriebes ist sein Verhältnis zu den grundlegenden Zwängen, denen alles Lebendige unterworfen ist nur ein indirektes, er ist den Zwängen der Reproduktion sozusagen nur ex negativo verbunden: Neben unserer Setzung der verschiedenen Formen der Reproduktion und damit der Vernichtung des konkreten Individuums als primäres Charakteristikum des Lebens, dem der Selbsterhaltungstrieb natürlich essentiell entgegensteht, liegt ein weiterer Grund für seine Einordnung durch uns in seiner wesentlichsten Voraussetzung: Der Selbsterhaltungstrieb setzt eine vom Leben schlechthin gesonderte Emanation des Lebendigen, ein konkretes Individuum voraus; er setzt des Weiteren voraus, dass dieses Individuum seiner Sonderung gewahr ist. Anders gesagt: der Selbsterhaltungstrieb kann sich nur bei konkreten Individuen finden, die sich im primitivsten und zugleich grundlegendsten Sinne ihrer Nicht-Identität mit dem Leben schlechthin, d.h. ihrer Sonderexistenz „bewusst“ sind. „Bewusstsein“ auf all seinen Stufen ist Gewahr-Sein der eigenen Nicht-Identität mit dem Leben schlechthin, ist Bewusstsein der Sonderung – oder es ist nicht. Das bedeutet zugleich auch, dass die Allgemeinheit des Selbsterhaltungstriebes eine Allgemeinheit zumindest einer rudimentärsten Form des von uns soeben beschriebenen Phänomens des „Bewusstseins“ voraussetzt. Ist der Inhalt des Begriffes des „Bewusstseins“ in diesem grundlegend-primitiven Sinne durch uns gesetzt, so ergibt sich daraus, dass, auch wenn sich das „Bewusstsein“ als Voraussetzung für den Selbsterhaltungstrieb vom menschlichen Bewusstsein graduell im höchsten Maße unterscheidet, es doch nicht wesentlich von ihm unterschieden ist. Daraus wiederum ergibt sich die Unzulänglichkeit der Auffassung des Bewusstseins als grundlegendes Merkmal der Unterscheidung zwischen dem Menschen und allem anderen Lebendigen.

    Hinsichtlich der Reproduktion durch Schlaf ist das „Bewusstsein“ des konkreten Individuums selbst mit der „Wachheit“ als der Abwesenheit von Schlaf ident. Das Gewahr-Werden der eigenen Sonderexistenz ist durch die Abwesenheit von Schlaf bedingt. Die Gegnerschaft von Reproduktion der Gattung und Integrität des konkreten Individuums erscheint hier also direkt, wobei sich die Integrität des konkreten Individuums in der Wachheit, also im „Bewusstsein“ selbst verwirklicht.

    Für alle anderen Formen des gattungsmäßigen Zwanges zu Reproduktion gilt: Aus der allgemeinsten Reaktion des konkreten Individuums auf der Grundlage seines „Bewusstseins“ auf seine Hinterfragung durch das Fressen-und-Gefressen-werden als des grundlegendsten gattungsmäßigen Zwanges zur Reproduktion – aus dem Selbsterhaltungstrieb im engeren Sinne also – kann der Charakter der unterschiedlichen Reaktionsformen des Bewusstseins auf je unterschiedliche Zwänge der Gattung analog abgeleitet werden. Ist das konkrete Individuum ohne die Möglichkeit einer Unterwerfung unter und damit einer Versöhnung mit dem Hive dem Phänomen des Totbeißens als Erleidender ausgesetzt, so sucht es sich durch Flucht seinem Schicksal zu entziehen. Das hat zwangsläufig das Gewahr-Werden der Nicht-Identität von konkretem Individuum und dem Hive als Statthalter der Gattung zur Voraussetzung. Des Weiteren setzt die Flucht des konkreten Individuums vor dem Hive ein mehr oder weniger ausgeprägtes Verständnis eben dieses Individuums für den Widerspruch von Gattung und Integrität der Einzelexistenz voraus.
    Das Phänomen der freiwilligen Absonderung vom Hive seitens der von der Fortpflanzung ausgeschlossenen Individuen bei gewissen sozialen Arten kann als eine dem Fluchtverhalten der vom Totbeißen bedrohten Individuen analoge Reaktion gedeutet werden, das wie dieses ebenfalls das „Bewusstsein“ der eigenen Sonderexistenz und des Widerspruchs von Sonderexistenz und Gattung zur Voraussetzung hat. Dabei kann der Komplex der Geschlechtlichkeit nur dann diese Folgen auf das konkrete Individuum zeitigen, wenn er mit der Wirkmächtigkeit des Hive verbunden ist: Nur wenn aktive Position im Hive und erfolgreiche Fortpflanzung wechselseitig verbunden sind, kann die Reaktion des konkreten Individuums auf den Ausschluss von der Fortpflanzung in Analogie mit dem Fluchtverhalten gesetzt werden. Die innige Verbindung der Rolle im Totbeißen als Wirkung des Hive auf das konkrete Individuum (sei es nun Täter oder Erleider) und dem individuellen Erfolg in der Fortpflanzung als Zweck der Geschlechtlichkeit lässt darauf schließen, dass Position im Hive und Erfolg bei der Fortpflanzung zwei Erscheinungsformen derselben spezifisch sozialen Form der Reproduktion der Gattung sind. Nur bei den sozialen Arten spiegelt sich also die unmittelbare individuelle Vernichtung im Komplex der Geschlechtlichkeit. Nur bei ihnen aktiviert der Ausschluss von der Fortpflanzung den Selbsterhaltungstrieb. Ist die Reaktion des Individuums auf den Ausschluss von der Geschlechtlichkeit nicht auf die eben geschilderte Weise mit der Bedrohung der individuellen Integrität verbunden, so sind die individuellen Reaktionen auf sie nicht Widerspruch gegen die Reproduktion der Gattung, und möglicherweise, so sie die Chancen zur Fortpflanzung steigern wollen, im Gegenteil sogar eine Funktion der geschlechtlichen Spielart der Reproduktion der Gattung.

    Alle diese Reaktionen des individuellen „Bewusstseins“ auf die verschiedenen Formen der Reproduktion der Gattung, so habe ich geschrieben, finden sich entweder bei allen Lebewesen oder nicht nur beim Menschen und konstituieren den Menschen damit nicht exklusiv. Was nun ist mein Vorschlag für die Begründung der Sonderstellung des Menschen unter allem Lebendigen?
    All die eben beschriebenen Reaktionen der konkreten Individuen auf ihre Bedrohung durch die Gattung stellen im Leben der konkreten Individuen der meisten Arten Ausnahmesituationen dar, die sehr schnell entweder mit dem Verschwinden der Bedrohungslage, sehr viel öfter jedoch mit dem Untergang des jeweiligen Individuums enden. Die Spielarten des Selbsterhaltungstriebes sind allesamt Formen des Aufstandes des sich selbst und seiner Nicht-Identität mit dem Leben schlechthin „bewussten“ Individuums gegen eben dieses Leben, dessen Wesen es ist, es in seiner Existenz zu bedrohen und zu vernichten. Doch dem Aufstand der Vertreter der meisten Arten fehlt nicht nur die Permanenz, sondern schon die Potenz zur Permanenz des Aufstandes: Zu kämpfen ist für Unterlegene gefährlich und das einsame Leben nach erfolgreicher Flucht vor den Artgenossen bringt Individuen sozialer Arten meist nur langsamer um als das Totgebissenwerden durch den Hive.
    Viel wurde schon über die grundlegenden biologischen Voraussetzungen der Sonderstellung des Menschen zu Papier gebracht. Ob sie nun in seiner Intelligenz, seiner Vielseitigkeit, seiner Instinktreduktion, die beide vorgenannten Eigenschaften begünstigt, oder seiner speziellen Form der Kommunikation begründet liegt, ist für unseren Vorschlag ganz irrelevant. Die Zeugnisse der Sonderstellung des Menschen, auf die oben zum Teil schon einige Schlaglichter gefallen sind – die metaphysisch-axiomatischen Vorstellung vom Wert des Individuums an sich, vom Wert der Integrität der zufälligen individuellen materiellen Ausformung der Gattung (also der Unversehrtheit des Körpers jedes einzelnen Menschen), die Vorstellung der permanenten Festlegung der „geistigen“ Ausformung des Individuums (des Selbstes oder des Ichs), die Gebäude, die die Menschen errichten, um sich vor den Unbillen der Welt zu schützen, seien sie nun materiell oder geistig, wie das Recht, der Staat usw., der Versuch, der gattungsmäßigen Reproduktion offensiv etwas entgegenzusetzen, wie er sich beispielsweise in der Medizin verwirklicht, kurz also die verschiedensten Techniken des konkreten Individuums oder eines Vereins von Individuen zur Abwehr der Dynamik der Reproduktion, und noch kürzer: die Kultur – sie stehen uns alle täglich vor Augen. Bei allen Unterschieden in ihrer Gewichtung und Ausformung durch die Jahrtzehntausende der Menschheitsgeschichte erweist sich an ihrer Kontinuität und Allgemeinheit das den Menschen von allem lebendigen unterscheidende und das Mensch-Sein somit exklusiv konstituierende Element: der permanente Aufstand.

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